Paul Auster: „Unsichtbar“, Roman (2010)

„Unsichtbar“ von Paul Auster ist ein packender Roman, der sich wirklich schnell liest, ohne leichtfertig zu sein. In einem Zusammenspiel verschiedenster Textsorten (Manuskript, Briefe, Erzählung, Tagebuch, Telefonate) und Erzählperspektiven (auktorialer Erzähler, Ich-Erzähler, Du-Erzähler) wird ein dichtes Netz der Handlung gewoben, innerhalb dessen nie zu hundert Prozent klar ist, was wirklich geschehen ist.

Die Story

Adam Walker, die zentrale Figur in diesem Buch, hat 1967 eine schicksalhafte Begegnung mit Rudolf Born. Dieser mal freundlich-gönnerhaft, mal jähzornig-brutale Mann tritt stets in weißem, oft zerknittertem Anzug auf. Er hat zweifellos diabolische Züge: er ist Verführer, vielleicht Mörder, Mäzen und potentieller Geheimdienstler… vor allem weiß er um sich herum ein undurchsichtiges Netz aus Unwahrheiten und Geheimnissen zu spinnen. Selbst am Ende des Romans wird man nicht recht schlau aus ihm. 
Adam Walker, der angehende Dichter und Student, steht Born mit einer Mischung aus Bewunderung, Skepzis, schließlich Angst und Hass gegenüber. Denn er erlebt, wie Born im Frühjahr 67 in New York einen Farbigen ersticht. Zumindest stellt Walker es so in seinem Manuskript dar, das er kurz vor seinem Tod einem alten Freund, James Freeman, genannt Jim, hinterlässt, der Schriftsteller geworden ist.
Das erzählerische Grundgerüst besteht aus der Korrespondenz der beiden, aus dem Manuskript, das schlicht „1967“ betitelt ist, und dessen drei Teile simpel aus den Jahreszeiten Frühling, Sommer und Herbst bestehen. Den letzten Teil erhält der Schriftsteller Jim erst, als Adam Walker schon verstorben ist. Letztendlich puzzelt er die telegrammstilartig niedergeschriebenen Hinterlassenschaften von „Herbst“ zusammen, um sich dann auf die Suche nach noch lebenden, im Manuskript erwähnten Personen zu machen. Er trifft auf Cécile Juin, die im Pariser Herbst 1967 in Adam verliebt war und sich mit ihm überwarf, weil sie ihm nichts von den Behauptungen glaubte, die er Born gegenüber verlauten ließ. Doch mit der Zeit hat sie ihre Meinung über Born offenbar geändert…

Über Erinnerungen, Lügen und offen Bleibendes

Der Roman wirft viele verschiedene Fragen auf und lässt einiges offen, was mich jedoch nicht störte. Auch ich lasse an dieser Stelle viele der Geschehnisse aus, um jedem zu ermöglichen, sich einen eigenen, möglichst unvoreingenommenen Eindruck des Buches zu machen. Es geht bei Auster um Wahrheitsbildung und um die Lügen, die man sich im Nachhinein über sein Leben erzählt, um Erinnerungen und verfälschte Wiedergabe eben dieser. Im Zentrum steht meiner Ansicht nach ebenso die Frage, was aus Menschen im Laufe ihres Lebens wird. Wie beeinflussen Ereignisse uns, wie prägen sie unser Leben oder unseren Charakter unter Umständen nachhaltig?
Paul Auster entwirft anhand mehrerer Personen, die 1967 aufeinander treffen verschiedentliche Lebensgeschichten, die vor allem verdeutlichen: Nichts ist vorhersagbar. Menschen können sich komplett verändern oder einen Kern ihres Wesens beibehalten, wie bei Adam Walker der Wunsch, Gerechtigkeit zu wahren und ein guter Mensch zu sein.

Das einzige, was sich mir nicht erschließt, ist, warum der Roman „Unsichtbar“ (original: „Invisible“) betitelt ist. Sind damit die unsichtbaren Lügenkonstrukte gemeint? Oder die immer mal wieder in andere Länder und an entlegene Orte flüchtenden Personen, insbesondere Born? Sind vielleicht die Beweggründe, die alle in Wirklichkeit umtreiben, unsichtbar?

Fazit

Ein durchaus lesenswertes Buch, das mich länger beschäftigt hat, weniger durch seine Lesezeit, als mehr durch die Fragen, die es in mir aufwarf.

Paul Auster: Unsichtbar (Invisible), aus dem Englischen von Werner Schmitz, erschienen bei Rowohlt, 2010

8 Gedanken zu “Paul Auster: „Unsichtbar“, Roman (2010)

    1. „Das Buch der Illusionen“ kenne ich noch nicht, werde es dann aber wohl mal auf meine Liste setzen! Hattest du es damals rezensiert? Ich hab bisher nur „Mann im Dunkel“ von ihm gelesen.

  1. Über diesen Roman habe ich jetzt schon so viel positves gelesen, dass ich ihn wohl wirklich bald selbst lesen sollte. Von Paul Auster habe ich – muss ich zu meiner Schande gestehen – bis jetzt noch nichts gelesen, bis auf einen hochinteressanten Essayband. Beeindruckt und angesprochen haben mich dann doch immer eher die Bücher seiner Frau Siri Hustvedt. Dieses hier wird dann wohl aber mein erstes Buch von Paul Auster sein, das ich lese … 🙂

    1. Zugegebenermaßen erinnerte ich mich vor einigen Wochen auch erst wieder an ihn, als ich Siri Hustvedt las… Es lohnt sich aber durchaus, ihn zu lesen 😉

  2. Diesen Roman habe ich zuerst gehört und musste ihn dann unbedingt noch einmal mit eigenen Augen lesen. Sehr spannend und auch rätselhaft, was nicht nur wie bereits erwähnt den Titel betrifft, sondern vor allem den Schluss.
    Wer mir diesen deuten kann, darf gerne mal bei meiner Rezension vorbei schauen.

    1. Liebe Atalante, wie schön, dass auch du hierher gefunden hast… Deinen Blog mag ich nämlich sehr, zumal du dich ja mitunter auch mit „klassischerer“ Lektüre beschäftigst.
      Wegen des Schlusses bei Paul Auster hast du völlig Recht, ich kann mir diesen genausowenig erklären. Was hat diese mysteriöse Szene ganz am Schluss zu bedeuten? Ich bin den Spuren noch nicht so nachgegangen wie du. Vielleicht findet sich ja irgend jemand, der ihn uns deuten kann 🙂 LG Laura

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