@bout John Irving: „Witwe für ein Jahr“ (1998)

John Irving_Witwe für ein Jahr

„Witwe für ein Jahr“ von John Irving ist für uns dieses Mal der Roman, mit dem wir uns beschäftigt haben. Es geht um die Familie Cole, in die Edward O´Hare durch einen Ferienjob hineingerät. Er beginnt als Teenager ein Verhältnis mit Marion Cole, einer wesentlich älteren Frau, die mit Ted Cole verheiratet ist. Deren Ehe ist aber seit dem Tod ihrer zwei Söhne stark von der Trauer beeinträchtigt. Darüber hinaus ist der Autor Ted Cole hinter weiblichen Wesen her, wie ein Löwe hinter seiner Beute. Und dann gibt es noch seine Tochter Ruth Cole, die später Schriftstellerin wird. Um sie und ihr Leben bzw. ihre Wiederbegegnung mit Edward geht es im Hauptteil. Der Roman ist sehr vielfältig, es geht nicht nur um Familienverhältnisse und Liebe, sondern auch um Verlust, den Umgang mit dem Tod und das Schriftstellerdasein bzw. darum, wie ein Roman entsteht. 

Laura: Für mich war es mein „erster Irving“. Was ist dir an dem Roman besonders aufgefallen?

Katja: Ich habe 2006 schon „GARP und wie er die Welt sah“ gelesen und war davon beeindruckt, welch unterhaltsamer und origineller Erzähler John Irving ist. Er erschafft ganz eigene Figurenwelten, zieht einen beim Erzählen direkt hinein in die Figurenwelt und in die Geschichte. Auch in „Witwe …“ empfinde ich das ähnlich. Ich habe das Gefühl, manche Eigenschaften von Figuren kehren wieder. Man könnte es ein irvingssches Stereotyp nennen. Man erinnert sich an die Figuren gut. Mir persönlich ist beim Lesen von Irvings Romanen aufgefallen, dass ich mich nicht mit seinen Figuren identifizieren kann oder diese besonders mag. Sie erscheinen mir so fern, so konstruiert, so fantastisch… Ich kann mich mit ihren Verhaltensweisen nicht identifizieren, aber das muss ich auch nicht. Will heißen – Irving schafft es mich im Leben von völlig fremden Menschen befinden zu lassen und das Gefühl zu haben, mitten drin zu sein ohne direkt zu verstehen oder zu mögen, was da passiert …

Laura: Vielleicht liegt es daran, dass ich Irving zuvor noch nicht gelesen habe, aber mich hat „Witwe…“ stark fasziniert. Natürlich ist es kein Kriterium für ein „gutes Buch“ (was immer das auch sein mag), ob man sich mit einer Figur identifizieren kann. Ich finde das gar nicht schlimm. Mich hat die Geschichte selbst auch enorm in ihre eigene fiktive Welt hineingezogen, da gings mir wie dir. Dabei konnte ich mich aber schon ein wenig mit Ruth anfreunden, bzw. war sie mir als Figur sympathisch. Ich fand sie gar nicht sonderlich konstruiert sondern ziemlich authentisch (alle Figuren).

Was mir besonders auffiel, ist, wie vielschichtig die Geschichten im Roman sind. Irving spricht soviele Ebenen und Themen an und reflektiert währenddessen darüber, ohne dass die Figuren an Intensität verlieren. Wenn ich an das Buch zurückdenke, sind mir meine mentalen Bilder noch sehr präsent in Erinnerung. Ist dir die Reflektion über das Schreiben und Entstehen eines Romans auch so aufgefallen?

Katja: Ja natürlich, auf der Metaebene geht es auch viel um das Schriftstellerleben und was es bedeutet, einen Roman zu schreiben. Ruth Cole, die „Witwe für ein Jahr“ begleitet man auf Lesereisen, Lesungen, Verlagsveranstaltungen durch die Welt. Das fand ich spannend. Auch das Thema „Fiktion vs. Authentizität“, das du schon mal kurz angesprochen hattest, finde ich spannend. Ist ein Roman irgendwie immer autobiographisch? Diese Frage beschäft Irving ja stark, da viele Leser in seinen Romanen Autobiographisches vermutet und hineingelesen haben. Im Nachwort zu Garp zur dt. Auflage Nr. 44 (!!!) schreibt er 1998: „Ein Erwachsener, der einen Roman liest, sollte wissen, worum es in dem Buch geht; ein Erwachsener sollte auch wissen, daß es nicht darauf ankommt, ob ein Roman autobiographisch ist oder nicht – es sei denn, dieser vermeintliche Erwachsene ist hoffnungslos naiv oder sonstwie unbedarft in der Welt der Literatur.“ =)

Laura: Definitiv ganz spannender Gegensatz bei Irving; Fiktion vs. Authentizität! Das hat mich auch sehr beeindruckt, wie er damit umgeht. Zum einen gibt es Stellen, an denen seine Figuren über Fiktion nachdenken, z.B. hier: „Als Romanautorin widerstrebte es ihr, über lebende Personen zu schreiben; sie empfand es als mangelnde Phantasie, denn jeder Romanautor, der diese Bezeichnung verdient, muß imstande sein, Figuren zu erfinden, die interessanter sind als ihre lebenden Vorbilder.“ (S.322) Und dann sind da noch so eingeflochtene Parallelen zu seinem eigenen Leben, wie die Tatsache, dass das Kapitel seines Romans „Die blaurote Luftmatratze“ von Ruth Cole (also seiner Romanfigur) verfasst wurde und in der Süddeutschen Zeitung erscheint; gleichzeitig im Dankwort vor dem Roman darauf hingewiesen wird, dass eben dieses Kapitel in eben dieser Zeitung 1994 erschien. Kein Wunder, dass manche Leser seine Romane für autobiografisch halten. Diese Schnittstellen und Schwellenebenen haben ihn Ende der 90er offenbar stark beschäftigt.

Katja: Nochmal was Generelles, damit das deutlich wird: Unstrittig ist John Irivng für mich auch ein großartiger Erzähler und ich hatte wieder großes Vergnügen beim Lesen eines Irvings. Sicherlich werde ich auch noch mehr von ihm lesen. Mit „Konstruiertheit der Figuren, so dass ich mich nicht mit ihnen identifizieren kann“ meine ich, dass er eine gewisse Dramatik in den Handlungsbeschreibungen und Lebenswegen einschlägt, die einfach so überraschend und einschneidend sind wie sie sich nur die kühnste Autorphantasie ausmalen kann. Darin liegt seine Stärke. Irving ist ein Maler, er malt Szenen, in die man eintaucht, er entführt den Leser in eine skurrile Figurenwelt, die man intensiv miterlebt. Das meine ich mit „konstruiert“. Da sind wir wieder bei der Begrifflichkeit Authentizität. Was heißt denn das, wenn eine Figur authentisch ist? Das man sich vorstellen kann, dass es sie in der „Realität“ geben kann und sie sich genauso verhalten könnte? Authentizität hängt ja auch immer davon ab, was ich mir selbst alles vorstellen kann und was ich selbst schon erlebt habe. Nehmen wir einen Menschen, der nichts erlebt hat – weder Tod, noch Liebe noch Leid – welche Handlungen in einem Roman wären denn dann „authentisch“? Ich halte das für einen schwierigen Begriff, der auf fiktionale Handlungen nicht wirklich gewinnbringend angewendet werden kann. Will heißen – er führt zu nichts.

Ich halte den Gegensatz von Authentizität und Fiktion für ein Konstrukt.

Laura: Hmm, ist ja interessant, dass du selbst den Begriff dann verwendest im Gegensatzpaar. Ich finde das Thema total spannend, und hatte nach meiner Irving-Lektüre auch mal eingehender darüber nachgedacht. Gibt es überhaupt einen Menschen, der nichts erlebt hat und somit auf keine Erfahrungen zurückgreifen kann? Und: Für mich ist etwas (wie eine Figur) authentisch, wenn sie nachvollziehbar handelt und es sie so in der Realität auch geben könnte, genau. Das heißt aber nicht unbedingt, dass ich das wiederum selbst erfahren haben muss um es mir vorstellen zu können… dann könnte ja auch ein Autor nur über Mord schreiben, wenn er selbst einen erlebt hat. Aber gut, das führt jetzt zu weit weg…

Andere Frage noch zu etwas, das mir stark auffiel in „Witwe für ein Jahr“: Wie gings dir mit dieser krassen Konfrontation Ruth Coles mit dem Tod ihrer Brüder durch wändeweise Fotos und dem Fahrtraining durch ihren Vater? Ich fand das sehr einprägsam und heftig, so mit Trauer umzugehen über Jahre hinweg.

Katja: Mit dem Gegensatzpaar beziehe ich mich ja nur auf deinen damaligen Artikel … Aber zu deiner Frage – Da stimme ich dir zu. Diese Fotografien an den Wänden, mit denen die Trauer verarbeitet wird, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Ich erinnere mich jetzt noch gut an das Foto „mit den Füßen“, wo beide Söhne mit der Mutter auf einem Bett unter der Decke liegen und nur die Füße schauen raus. Irving beschreibt es so eindrücklich, dass ich das Gefühl habe, es gesehen zu haben. Das macht seine große Erzählkunst aus.

Wie emfandest du denn die Sexszenen? Ich habe den Eindruck Sex in all seinen Spielarten ist ein wichtiges Thema bei Irving.

Laura: Stimmt, dieses Foto mit den Füßen kam so eindrücklich und häufig vor im Buch, dass ich es auch meine, selbst gesehen zu haben. Das ist toll, wenn ein Autor sowas schafft! Wahre Erzählkunst. Und du hast Recht, Sex spielt auch eine große Rolle. Nicht nur deshalb, weil der Roman teils in Amsterdam im Rotlichtmilieu spielt. Obwohl ich es nicht zuuviel fand, was manche ja bei Irving kritisieren. Es ist natürlich ungewöhnlich, so ausführlich über Sex mit einer wesentlich älteren Frau zu lesen, aber ich fands (mit einem gewissen Befremden) auch spannend.

Katja: Genau das meine ich auch mit der Identifikation, Konstruiertheit und Sympathie. Ich tauche als Leser in Irvingsche Figurenwelten, die teilweise so eigen und absonderlich sind, so zutiefstmenschlich und fast schon überdramatisch menschlich, das heißt, sie erleben die Klaviatur der menschlichen Emotionen. Ein wahres emotionales Fest könnte man sagen. Man kommt nicht immer mit, man ist überrascht, man fremdelt, man ist fasziniert. Jeder Leser sicherlich mit seinem eigenen Erfahrungshorizont. Irving unterhält einen nicht nur, er inszeniert. Vielleicht beschreibt das am besten meinen Leseeindruck. Übrigens sind Irving-Verfilmungen auch sehr zu empfehlen. Von Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ gibt es tolle Verfilmungen.

Laura: Ich verstehe, was du meinst. Man taucht komplett in die Irvingssche Erzählwelt ein und muss sich erstmal schütteln, wenn man daraus hervor wieder in den eigenen Alltag auftaucht. Mich hat das stark beeindruckt und ich will unbedingt noch mehr von ihm lesen. Er hat auch schon seinen Platz im Regal meiner „Lieblingsautoren“. Liebe auf den ersten Roman, wenn man`s pathetisch mag 😉 Und ein guter Tipp mit den Verfilmungen, das werd ich mir mal merken!

John Irving: „Witwe für ein Jahr“, 1998 erschienen bei Diogenes.

>>> Interessantes Interview mit John Irving zu seinem letzten Roman „In einer Person“

7 Gedanken zu “@bout John Irving: „Witwe für ein Jahr“ (1998)

  1. Die Witwe war mein zweites Buch von Irving nach dem Hotel New Hampshire und hat mich weiter für ihn begeistert. Wobei ich sagen muss, dass zwischen beiden eine lange lange Zeit lag.
    Zwischenzeitlich hatte ich allerdings schon die Verfilmung des ersten Teils der Witwe gesehen, die ihr hier eigenartigerweise gar nicht erwähnt.
    Als ich dann das Buch in einem Hostel auf dem Tauschbord stehen sah, kam ich nicht mehr drum herum. Und es hat sich gelohnt!
    Leider ist schon wieder viel Zeit seit meiner letzten Irving-Lese-Erfahrung vergangen (Letzte Nacht in Twisted River). Es wird mal wieder Zeit. Danke daher für die Anregung!

    P.S. der Film ist übrigens nach dem Kinderbuch des Vaters benannt ‚The door in the floor‘.

    1. Dass ich die Verfilmung von „Witwe ..“ nicht erwähne, liegt daran, dass ich diese nicht kenne. Ich habe spontan diejenigen Filme aufgezählt, die mir eingefallen sind. So umfassend sind da meine Kenntnisse nicht. Aber danke für den Hinweis =)!
      Liebe Sonntagsgrüße von Katja

  2. Guten Morgne Laura und Katja,
    ich mag eure Beiträge in Interviewform sehr.
    Als ich die Witwe las, hatte ich schon alle Bücher von Irving, die er davor schrieb, gelesen.
    Mein Lieblingsbuch von ihm ist „Gottes Beitrag und Teufels Werk“ und wird dann gefolgt von der Witwe.
    Ich identifiziere mich gerne mit dem Jungen in „Twistet River“, der sich durch sein Leben kämpft. Nicht, dass ich so fühle oder handeln würde wie ich aber er ist so liebenswert linkisch.
    Mein Sammlung an Irving Büchern ist schon in Umzugskisten verpackt. Es geht bald los und heute werde ich einen beträchtlichen Teil meines Ateliers verpacken. Ich freue mich schon auf euren ersten Besuch, eure Fahrzeit zu mir verkürzt sich um 1 Stunde. Das Zentrum Berlins hat mich wieder! Freu!
    Einen schönen Sonntag wünscht euch Susanne

    1. Liebe Susanne, interessant, dass du dich mit einer Irving-Figur identifizierst. Ich kenne „Twisted River“ leider nicht.
      Ja, du hattest ja erwähnt, dass du umziehst. Gern besuchen wir dich mal wieder zu zweit auf nen Herbstkunstplausch.
      Bis bald – hab einen guten Umzug – ich hoffe, es geht nichts von deiner Kunst zu Bruch oder verloren.
      Viele Grüße von Katja

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