Klassiker der Weltliteratur: Virginia Woolf „Mrs Dalloway“

P1030489„Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Leute kämen. Und dann, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen – frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.
Was für ein Vergnügen! Was für ein Sprung! Denn so war es ihr immer vorgekommen, wenn sie, mit einem leichten Quietschen der Angeln, das sie jetzt hören konnte, die Fenstertüren zum Garten aufgerissen hatte und in Bourton ins Freie gesprungen war. Wie frisch, wie ruhig, stiller natürlich als jetzt, die Luft am frühen Morgen war; wie der Klaps einer Welle; der Kuß einer Welle; eiskalt und schneidend und doch (für ein Mädchen von achtzehn, das sie damals war) feierlich, mit dem Gefühl, das sie an der offenen Tür stehend hatte, etwas Bestürzendes werde sich gleich ereignen; auf die Blumen blickend, auf die Bäume mit dem entweichenden Dunst und die steigenden und sinkenden Krähen, stehend und blickend, bis Peter Walsh sagte „zum Grübeln ins Gemüse“ – war es das? – „Menschen sind mir lieber als Blumenkohl“ – war es das?“ (S. 7)

Ein faszinierender Roman über das herrschaftliche London und die gehobene bürgerliche englische Gesellschaft an einem Tag in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg. Es herrschen strenge Konventionen, gesellschaftlicher Anstand, Sitte und Moral. Im vornehmen Stadtteil Westminster bereitet Clarissa Dalloway, Gattin des Parlamentsabgeordneten Richard Dalloway, eine ihrer berühmten Gesellschaften vor. Im Roman begleiten wir Mrs Dalloway während der Vorbereitungen in ihrem Hause und bei ihren Besorgungen. Dabei lernen wir zahlreiche geladene Gäste kennen, die sich alle im Hause Dalloway am Laufe des Tages und Abends zum gemeinsamen Speisen und angeregten Unterhaltungen zusammenfinden werden. Lebendig und anschaulich führt Virginia Woolf den Leser mitten in das pulsierende noble London, das kurz nach dem ersten Weltkrieg erheblichen Erschütterungen ausgesetzt war, dessen Bewohner jedoch an den traditionellen viktorianischen Sitten und der strengen Moral festhalten.

 „Alles war zum Stillstand gekommen. Das Klopfen der Motoren klang wie der unregelmäßig durch einen ganzen Körper schlagende Puls. Die Sonne wärmte außerordentlich, weil das Automobil vor Mulberrys Schaufenster stehengeblieben war; alte Damen auf den Omnibusdecks spannten ihre schwarzen Sonnenschirme auf; hier öffneten sich mit einem leichten Plopp ein grüner, da ein roter Sonnenschirm. Mrs Dalloway, mit ihrem Arm voller spanischer Wicken ans Fenster tretend, schaute mit ihrem kleinen rosafarbenen, forschend zusammengekniffenen Gesicht hinaus. Alle Welt schaute auf das Automobil. Septimus schaute. Jungen auf Fahrrädern sprangen ab. Der Verkehr staute sich. Und da stand das Automobil, mit vorgezogenen Vorhängen, und auf ihnen ein merkwürdiges baumähnliches Muster, dachte Septimus, und dieses stufenweise Sichzusammenziehen von allem auf einen Mittelpunkt vor seinen Augen, als ob etwas Grauenhaftes annähernd an die Oberfläche gekommen und drauf und dran wäre, in Flammen aufzugehen. Ich bin es, der den Weg versperrt, dachte er. War es nicht er, der aus einem bestimmten Grunde zentnerschwer in dem Bürgersteig verwurzelt war? Aber aus welchem Grunde?“ (S. 18)

Virginia Woolf (*1882 London), die neben Gertrude Stein, zu den wichtigsten englischen Autorinnen der Moderne zählt, entwirft in ihrem Roman einen ganz neuen innovativen Schreibstil, der durch verschiedene Erzählweise einen psychologischen Einblick in ein faszinierendes Figurenensemble ermöglicht. Detailliert werden äußere Begebenheiten augenblicksnah erfasst, die den Ausgang zu den Innenwelten verschiedener Personenwelten ermöglichen, indem der Erzähler in den Hintergrund tritt. Ihr Schreibstil vermischt direkter, indirekte und erlebte Rede sowie innere Monologe und Bewusstseinsstrom. Der Roman besticht weniger durch einen konkreten Handlungsbogen sondern weitaus mehr durch seine psychologische Innenperspektive der einzelnen Figuren, die nahtlos ineinander übergehen und sich abwechseln. So entsteht ein einziger Gedankenstrom, wenn man Clarissa Dalloway beim Blumenkauf beobachtet und ihren Gedanken über ihre Ehe („Nur noch dieses Mrs Richard Dalloway-Sein“), die Gesellschaft, die geladenen Gäste und Freunde sowie Fragen von Moral und gesellschaftlicher Dimension anhand kleiner scheinbar nebensächlicher Beobachtungen und Begebenheiten ausgelöst wird. Äußere Ereignisse durchbrechen die Handlung und lenken den Blick auf andere Figuren, man wird sofort von einer dramatische Empfindungswelt in die nächste katapultiert – so z. Bsp. in jene des emotional durch seine Kriegserlebnisse erkalteten Septimus Warren Smith und seiner Frau Lucrezia, der sich am Ende des Tages aus dem Fenster stürzen wird.

Die Autorin versteht es meisterhaft die brüchig gewordenen Moralvorstellungen und langsam zerfallenden starren gesellschaftlichen Konventionen anhand der Innenschau verschiedenster Figuren sichtbar werden zu lassen. Der äußere Schein wird ad absurdum geführt durch die dramatische Wahrheit der Gedanken einzelner Figuren. Meisterhaft wie nebenbei werden Fragen von Ehe und Moral, von Leidenschaft und Liebe, von Religion und Sitte vorgeführt: Einmal durch Clarissa Dalloways Jugendliebe Peter Walsh, der ebenfalls an der Gesellschaft teilnehmen wird und auch nach Jahren immer noch eine große Leidenschaft für sie hegt, die sie nicht erwidert, da sie sich der Vernunftehe und ihres Status als „Mrs Dalloway“ wohl bewusst ist und Peter für einen Träumer hält. Des weiteren durch ihre Tochter Elisabeth, die sich als brave aber sehr ernste Tochter des Hauses („Chinesenaugen in einem blassen Gesicht; ein orientalisches Geheimnis; (…) sanft, besonnen, still.“) mit Clarissas Intimfeindin, der göttlich erleuchteten aus einfachen Verhältnissen stammenden Miss Kilmann anfreundet und christliche Nächstenliebe praktiziert, dass es ihrer Mutter die Zornesröte ins Gesicht und den Stachel der Eifersucht ins Herz treibt.

„Liebe und Religion! dachte Clarissa, als sie, mit einem Kribbeln über den ganzen Körper, in den Salon zurückging. Wie abscheulich sie sind! Denn jetzt, wo Miss Kilman ihr nicht leibhaftig gegenüberstand, überwältigte sie sie – die Idee. Die grausamsten Dinge der Welt, dachte sie, und sah sie plump, eifernd, herrisch, heuchlerisch, lauschend, eifersüchtig, unendlich grausam und skrupellos, in einen Regenmantel gekleidet, auf dem Treppenabsatz; Liebe und Religion. Hatte sie selber je versucht, jemanden zu bekehren? Wünschte sie nicht, daß jedermann nichts weiter sei als er selbst? Und sie beobachtete durch das Fenster die alte Dame von gegenüber die Treppe hochsteigen. Mochte sie doch hochsteigen, wenn sie wollte; mochte sie stehenbleiben; mochte sie, wie Clarissa oft gesehen hatte, dann in ihr Schlafzimmer gelangen, ihre Vorhänge auseinanderziehen und wieder im Hintergrund verschwinden. Irgendwie achtete man das – diese alte Frau, die aus dem Fenster schaute, völlig unbewußt, daß sie beobachtet wurde. Es war etwas Feierliches darin – aber Liebe und Religion würde es zerstören, was immer es sein mochte, die Heimlichkeit der Seele. Die hassenswerte Kilman würde es zerstören. Aber es war ein Anblick, bei dem sie am liebsten geweint hätte.“ (S. 124)

Vorbild für Clarissa Dalloway war eine adlige Kunstmäzenin und schillernde Persönlichkeit, die sich Virginias Bloomsbury-Kreis anschloss und für ihre allabendlichen Gesellschaften bekannt war, an denen auch Virginia Woolf und deren Freunde regelmäßig teilnahmen. Virginias gute Beobachtungsgabe und liebevoll detaillierte Beschreibung menschlicher Unzulänglichkeiten hinter der bürgerlich-reinen Fassade lassen ihre ihre Verehrung der „wahren“ Mrs Dalloway in jedem Wort sichtbar werden.

Es lohnt sich gerade heute, diesen Roman erneut zu lesen, wo eine Frau ihre verschiedenen Rollen als Ehefrau, Geliebte, Mutter und Seelenverwandte jenseits gesellschaftlicher Schranken freiheitlich ausleben kann und dafür Anerkennung erhält.Virginias Kritik an den festen Rollenbildern ihrer Zeit richtet sich weniger kämpferisch anklagend an den damaligen Mann als aktiv an die gebildete Frau jener Zeit, der sie den Mut und die Tatkraft wünscht, sich ihrer Individualität bewusst zu werden und sich nicht nur mit einem „Mrs Dalloway-Sein“ zu begnügen zu wollen. Auf diesem Wege bildet ihr Roman einen wichtigen Schritt in Richtung des literarischen Feminismus.

~ Leben und Werk ~VirginiaWoolf

Virginia Woolf ist für mich eine der faszinierendsten weiblichen Autorinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzte. Geprägt durch eine viktorianische Erziehung und aufgewachsen in einem vornehmen englischen Hause hatte sie das Glück durch ihre Familie früh mit fortschrittlichen Tendenzen in einem intellektuellen Umfeld erwachsen zu werden. Als Essayistin, Literaturkritikerin und Romanautorin konnte sie bereits Ende der 1920er von ihrer Arbeit leben. „Mrs Dalloway“ war ihr vierter Roman und zweiter experimenteller Roman, den sie im von ihr gegründeten Verlag „Hogarth Press“ veröffentlichte.

Obwohl Virgina Woolf ihren Ehemann Leonard Woolf heiratete, mit dem sie bis zu ihrem Selbstmord glücklich lebte, fühlte sie sich Zeit ihres Lebens zu Frauen hingezogen – Leonard duldete diese erotischen Beziehungen. Virgina Woolf beschäftigte sich zeitlebens mit Frauenfeindlichkeit, tradierten Geschlechterrollen und gilt mit ihren Essays „Drei Guineen“ und „Ein eigenes Zimmer“ sowie „Orlando“ daher als literarische Ikone des frühen Feminismus.

Geplagt von lebenslangen Depressionen und Angstschüben setzt Virgina Woolf ihrem Leben 1941 in einem englischen Fluß ein Ende.

Virgina Woolf: „Mrs Dalloway“, Fischer Taschenbuch Verlag 10. Auflage 2003 (Erstmals erschienen 1925)

 

Lektüre- und Film-Tipp zu Virgina Woolf:

 Film: „The Hours“  (2002) – Großartiger, berührender Film über einen Tag im Leben von drei Frauen, deren Leben in unterschiedlichen Zeitebenen erzählt mit „Mrs. Dalloway“ zusammenhängen – Virgina Woolf (gespielt von Nicole Kidman, die für ihre Rolle einen Oscar erhielt) beginnt ihren Roman „Mrs. Dalloway“, frustrierte Haus- und Ehefrau Laura Brown liest den Roman „Mrs Dalloway“ und Clarissa Vaughn (gespielt von Meryl Streep) bereitet eine Party für ihre AIDS-kranke Jugendliebe Richard vor.

 Essay: „Ein eigenes Zimmer“  (1929) – Auf erzählerisch-essayistische und sehr humorvolle Weise widmet sich Virgina Woolf der generationsbestimmenden Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Frau und der Selbstbestimmung von intellektuellen Frauen in Literatur und Kunst: „Ich habe Ihnen im Laufe dieses Vortrags erzählt, daß Shakespeare eine Schwester hatte; aber suchen Sie sie nicht in Sir Sidney Lees Biographie des Dichters. Sie starb jung – leider schrieb sie nie ein Wort. Sie liegt begraben, wo jetzt Omnibusse halten, gegenüber der Station Elephant und Castle. Ich glaube fest, daß diese Dichterin, die nie ein Wort schrieb und an einem Kreuzweg begraben wurde, immer noch lebt. Sie lebt in Ihnen und in mir, und in vielen anderen Frauen, die heute abends nicht hier sind, denn sie waschen das Geschirr ab und bringen die Kinder zu Bett. Aber sie lebt; denn große Dichterinnen sterben nicht; sie sind weiterhin anwesend; sie brauchen nur die Gelegenheit, leiblich unter uns zu wandeln. Ihr diese Gelegenheit zu geben wird, denke ich, bald in Ihrer Macht stehen. (…)“ („Ein eigenes Zimmer“ S. 112)

5 Gedanken zu “Klassiker der Weltliteratur: Virginia Woolf „Mrs Dalloway“

  1. „Mrs. Dalloway“ enthält Szenen und Sätze, die für mich unvergesslich sind. Meiner Meinung nach hat Virginia Woolf Lesbarkeit und Experimentierfreudigkeit in keinem ihrer anderen Romane so perfekt im Gleichgewicht gehalten. Ich begrüße es sehr, dass du an diesen großen Roman erinnnerst.

    1. Das hab ich doch gern gemacht! Ich hoffe so mancher erinnert sich an Virginia Woolf und nimmt sie sich mal zur Hand. Sie erscheint mir auch so aktuell und wenn man, wie Laura und ich, jüngst in London war,
      kann man sich die Welt der Mrs Dalloway so gut vorstellen und sieht sie quasi in Westminster mit ihren Blumen über die Straße wandeln … =)

  2. Toller, umfassender Artikel zu einem Buch, das ich schon lange hier liegen habe… Vielleicht sollte ich mich doch mal aufraffen und es endlich lesen! Nachdem mir der Film „The Hours“ auch schon sehr gut gefallen hatte. Beste Grüße, Laura

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