Andreas Neuenkirchen: „Yoyogi Park“ (Krimi, 2014)

„Der Yoyogi Park, eine der größten Grünanlagen in Tokio, öffnete seine Pforten jeden Morgen pünktlich um fünf Uhr. Ein paar Stunden später kamen die Menschen. Insbesondere am Wochenende. Insbesondere Sonntag. Die Spaziergänger mit und ohne Tier, die Musiker, die Läufer und Radfahrer, die Säufer und Gesundheitsfanatiker, die Händler und ihre Kunden, die Touristen mit den Fotokameras und die Nationalisten mit den Lautsprechern. Nicht an diesem Sonntag. Schwarz-weiße Honda Polizeiwagen mit stummem Blaulicht versperrten die Eingänge, während auf einer Lichtung nahe des westlichen Tors die Leiche einer jungen Frau untersucht wurde.“ (S. 12)

Yoyogi Park_Neuenkirchen„Yoyogi Park“ ist das gelungene Krimidebüt des deutschen Autors und Japankenners Andreas Neuenkirchen und führt den Leser direkt hinein in die japanische Großstadt Tokio zwischen Kirschblüten, Gothic-Lolitas und Yakuza. Der Journalist Neuenkirchen bereiste Japan viele Male, ist Herausgeber der „Gebrauchsanweisung für Japan“ und verfasste zahlreiche Artikel über japanische Popkultur. Sein Wissen über dieses Land und seine Liebe zur japanischen Kultur verknüpft er in seinem ersten Roman mit einer spannenden Kriminalhandlung.

Am Ende des jährlichen Kirschblütenfestes mitten im japanischen Frühling wird im tokioter Yoyogi Park die Leiche eines jungen Mädchens entdeckt. Sie wurde scheinbar mit mehreren Messerstichen brutal getötet. Die junge clevere Kommissarin Yuka Sato wird gemeinsam mit ihrem Assistenten Shun Nakashima mit dem eigenartigen Verbrechen betreut, der der erste große Fall ihrer Karriere werden soll. Wieso ist das Mädchen im auffälligen Lolitastil gekleidet, wie das berühmte durch alle Kanäle geisternde Popsternchen Yuka Sato? Hatte die junge Ai kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr? Könnte der Vater des Mädchens etwas über ihren Tod wissen, der sie jahrelang mehrfach missbraucht hat? Als innerhalb weniger Tage weitere Leichen auftauchen, scheint sich der Fall mehr und mehr zuzuspitzen.
Die Ermittlungen führen sie in Tokios bizarre und bunte Subkulturen Harajuku und Akihabara in eine Welt, in der junge attraktiv herausgeputzte Mädchen älteren Männern in jedem Bereich zu Diensten sind. Auf verschiedenen  Wegen gelangt Inspector Sato immer tiefer in die Unterwelt Tokios, wo die geheimnisvolle Madame Shiro mit kühlem vernichtenden Blick ihr Regiment leitet. Ihre Verbindungen zur japanischen Mafia, der Yakuza, führen am Ende wieder an den Anfang zurück zu den Kirschblüten im Yoyogi Park. Die junge Kommissarin ahnt nicht, in welcher Gefahr sie sich plötzlich befindet …

Neuenkirchen gelingt ein interessantes Experiment – er kombiniert sein umfassendes journalistisches Wissen über Japan mit einer fiktiven Kriminalgeschichte. Unter dem Etikett „Japan-Krimi“ entführt der Autor den Leser anhand des Kriminalfalles der japanischen Kommissarin Sato Leser in eine ihm fremde Kultur und spannende Gesellschaft. Während ihrer Ermittlungen zum Tathergang entdeckt man die Unterwelt der japanischen Mafia und die Bar- und Vergnügungsviertel mit ihren sogenannten Maid-Cafés. Der Leser erfährt mehr über spezielle Eigenheiten japanischer Jugendszene und Popkultur wie Lolitas, die Vielseitigkeit des japanischen Essens und der Gastronomie sowie japanische Gepflogenheiten im Zwischenmenschlichen und Dating-Bereich. Faszinierend sind dabei immer wieder der japanische Gegensatz und die gleichzeitige Einheit von Tradition und Moderne, die die japanische Kultur und Gesellschaft bis in den Alltag hinein prägen. Allerlei Verlockungen, Abgründe und Gefahren lauern hinter der fernöstlichen Pracht der Metropolregion Tokio mit ihren 35 Millionen Einwohnern, in der der Einzelne weniger auffällt als eine Stecknadel in einem Heuhaufen.

In seinen Erläuterungen und detaillierten Beschreibungen befindet sich der Autor immer an der Grenze zum journalistischen Sachbuch, kriegt aber immer rechtzeitig die Kurve den Leser nicht zu langweilen, sondern durch unerwartete Wendungen, neue mögliche Verdächtige und ein vielseitiges mehr und mehr verflochtenes Personenensemble in Atem zu halten: Wieso musste die junge Ai sterben?

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„Da war sie wieder. Auf allen Kanälen. So schön. So tot. Fast wie echt. Diese Frisur. Die Haare. Die Haare waren einfach perfekt. Er konnte überhaupt nicht genug von diesen Bildern sehen, von denen alle Sender der Stadt überhaupt nicht genug senden konnten. Es gab also doch etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Und immer wieder wurde dieser Name genannt, als wäre die Fantasie Wirklichkeit. Yuka Sato. So trügerisch simpel und so melodisch. Eine Melodie, die ihn sein ganzes Leben begleitete. Zumindest sein ganzes Liebesleben. Zumindest die jüngere Vergangenheit seines Liebeslebens. Andererseits: Hatte sein wahres Liebesleben nicht erst mit Yuka Sato begonnen? Wer waren schon die anderen, die vor ihr? Unbedeutend waren sie, Staub. Staub zu Staub.“ (S. 118f. )

Als Autor besitzt Andreas Neuenkirchen ein untrügerisches Gespür für Spannung, witzige Dialoge und eine eindeutig von amerikanischen Kriminalfilmen inspirierte Erzählhaltung rasanter Szenenwechsel und taktischer Verwirrspiele. Der szenische Aufbau und Struktur des Buches in einzelne Akte, denen eine Liste der Dramatis Personae vorangestellt ist, verstärkt diesen Eindruck noch. „Yoyogi Park“ ist kein bierernster, trauriger oder schwerer Psychothriller, sondern bewegt sich spielerisch und sehr humorvoll im Bereich jener Kriminalromane, die die Ermittlungsarbeit des Kommissars und die Suche nach dem Täter in den Mittelpunkt stellen.

Ich vermisse als nichttypischer Krimileser ein wenig die Entwicklung der einzelnen Charaktere wie Kommissarin Sato und der eigentlichen Hauptperson – des Opfers Ai Minamoto. Hier hätte der Autor seine Fantasie und Erzählkunst ein wenig mehr einsetzen können, um dem jungen Mädchen einen weniger schablonenhaften Charakter und mehr Persönlichkeit zu verleihen. Man erfährt zwar grob einiges von den Personen aus ihrem Hintergrund, doch bleibt ihr Gesicht, ihr Leben und ihre Herkunft eigenartig leer, so dass sie am Ende nicht viel mehr ist als die für einen Kriminalfall nötige Leiche. Auch die Täter-Opfer-Beziehung erschien mir zum Ende hin ein wenig schnell erzählt und die letztendlichen Motive, die zur Mordtat führten, seltsam diffus und von der Freude über die scheinbare Lösung des Falles ein wenig wegerzählt. Doch im Ganzen hat mich der Roman sehr gut unterhalten, inhaltlich nicht gelangweilt, mir eine fremde faszinierende Welt eröffnet und mich neugierig auf weitere Fälle Yuka Satos in der rasanten tokioter Unterwelt werden lassen.

Dieses Buch ist nicht nur ein rasantes Lesevergnügen für Japan-Interessierte und Fans japanischer Popkultur, sondern entführt den Krimileser abseits althergebrachter Tatorte und Szenen in eine fremde Kultur, über die er viele interessante Details erfährt. In seinem Blog gibt Andreas Neuenkirchen einen spannenden Einblick in die Entstehungsgeschichte des Romans und verrät, welche realen Orte in Tokio ihn zu seinen Romanschauplätzen inspirierten. Auch über den Autor selbst erfährt man einige interessante Details, die ihn sehr sympathisch machen.

Am aufschlussreichsten ist jedoch der Anfang  Autoren-Nachwortes von „Yoyogi Park“, in dem sich Neuenkirchen als Journalist zu seinem Roman als fiktiven Text positioniert:

„Ich hab nie einen Hubschrauber in einem Park gelandet, bin nie mit Polizisten auf Streife gewesen und habe niemanden aus großer Entfernung erschossen. Dieses Buch ist ein Roman. Es ist kein Sachbuch über Polizeiarbeit, keines über Japan (ich könnte Ihnen allerdings eines empfehlen) und kein Adressbuch für Tokio. Vieles in diesem Roman existiert genau so, wie es hier geschrieben steht. Einiges ist reine Fantasie. Das Allermeiste liegt irgendwo dazwischen. (…)“ S. 346

In diesem Sinne – viel Spaß mit „Yoyogi Park“!

Andreas Neuenkirchen: „Yoyogi Park“, Conbook Verlag Meerbusch, 2014.

neuenkirchen_andreasÜber Andreas Neuenkirchen

Andreas Neuenkirchen, 1969 in Bremen geboren, ist seit 1993 Journalist, zunächst frei im Feuilleton Bremer Tageszeitungen und Stadtmagazine, später als Redakteur bei Videospiele- und Technikmagazinen. Seit 2001 Online-Redakteur. Er bereist seit Ende der 90er-Jahre regelmäßig Japan und lebte längere Zeit in Tokio. Er schrieb für deutsche und internationale Publikationen über japanische Popkultur und Unterhaltungselektronik. Andreas Neuenkirchen ist der Autor der „Gebrauchsanweisung für Japan“ (Piper). Zurzeit lebt er japanisch verheiratet in München.

>> Mehr über den Autor und seine Arbeit erfahrt ihr auch auf dessen Homepage: http://www.shakira-kurosawa.com

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