Sag mir, wie du denkst und ich sag dir, wer du bist. In dieser oder ähnlich verknappter Form könnte man das Anliegen von Ludger Pfeils Sachbuch „Du lebst, was du denkst“ fassen. Mich erinnert es auch an René Descartes „Ich denke, also bin ich“. Bin ich nun, weil ich denke oder was ich denke? Lebe ich immer, was ich denke? Und hilft mir das, mich und meine Mitmenschen besser zu verstehen?
Ludger Pfeil ist promovierter Philosoph und Managementberater. Sein Buch möchte „mit der Aufdeckung philosophischer Hintergründe begreiflich machen, wie wir denken“. Anhand verschiedenster philosophischer Denkweisen teilt Pfeil 9 verschiedene Denktypen ein. Seine Idee: Wir könnten einander besser verstehen, wenn wir erkennen, dass jeder Mensch nach einem gewissen Denkmodell lebt. Wenn wir miteinander kommunizieren, führt dies oft in eine Sackgasse und man fragt sich oft: Wieso versteht mich mein Gegenüber nicht? Das liegt laut Pfeil auch daran, dass ein Mensch mit der Zeit ein gewisses Denkmuster entwickelt, nach dem er lebt. Pfeils These: Wer sich in andere Denkmuster hineinversetzt und besser erkennt, welcher Denktyp er ist, wird es leichter haben, andere zu verstehen. Auch die großen Philosophen lebten und dachten nach gewissen Mustern. Pfeil versucht sich damit also an einer Einordnung philosophischer Denkweisen. Kein leichtes Unterfangen, wenn man bedenkt, wie alt die Philosophiegeschichte ist. Er fängt bei den Vorsokratikern an und verfolgt die Denker bis ins 20. Jahrhundert.
Die hier dargestellten Denkmuster sind zunächst einmal verbreitete und legitime Modelle, um die Komplexität und Kontingenz der Welt zu bewältigen, sowie ernsthafte Versuche, auf die verwirrenden Fragen unseres Daseins eine Antwort zu finden. Sie alle haben Ihre Chancen und Risiken und verdienen mehr als lapidare Zustimmung oder Ablehnung. Wichtiger als unmittelbare Stellungsnahme ist die Achtsamkeit der Begegnung mit dem eigenen und dem fremden Denken.
Was Ludger Pfeil machen möchte, bezeichnet er als eine Art „philosophische Typberatung“. Wir können uns in dem einen oder anderen Denktyp wiederfinden und auch die Personen, mit denen wir streiten, hinter einem oder zwei der Denktypen wiedererkennen. Diese Denktypen bieten damit eine bessere Möglichkeit einmal in die „Denk-Haut“ des anderen hineinzuschlüpfen und zu erkennen, von welcher Position aus er die Welt sieht. Damit bezieht er sich auf Johann Gottlieb Fichtes oft zitierten Satz: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist …“
Die Denktypen
Der Überzeugungsdenken – Liebe zur Wahrheit
„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus)
Denkmodelle von:
Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Francis Bacon, René Descartes, Baruch de Spinoza, Kant
Der Hinterfrager – Mut zum Zweifeln
„Das ist das ganze Unglück, dass die Dummen so sicher sind und die Klugen so voller Zweifel.“ (Bertrand Russell, Mortals and Others)
Denkmodelle von:
Sokrates, Pyrrhon, Stilpon, Friedrich Nietzsche, Karneades, Michel de Montaigne, David Hume
Die Glücksfinder – Ja zur Welt
„Die Stunden hüpfen wie silberklare Wellen um mein Dasein; aus dem verworrenen Spiegel menschlicher Wünsche tönt eine leise Harmonie zu mir her – die ganze Natur ist ein schöner, ewig, ungetrübter Spiegel, der mir heiter nur mein eigenes Glück zurückstrahlt!“ (Sophie Mereau, Amanda und Eduard)
Denkmodelle von:
Gottfried Willhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau, Ernst Bloch, Friedrich Nietzsche, Epiktet, Alain, Albert Camus
Die Schwarzseher – Bewährtes Misstrauen
„Was einen treffen kann, kann alle treffen.“ (Publilius Syrus, Sentenzen)
„Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.“ (Georg Trakl, Grodek)
Denkmodelle von:
Arthur Schopenhauer, Voltaire, Emil Cioran, Lucius Annaeus Seneca, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Jean-Francois Lyotard, Jean Baudrillard, Hans Jonas
Die Lebenskünstler – Bedürfnisse als Orientierung
„Ganz gewiss braucht man um so weniger, je befreiter man ist. Der Weise dementiert es täglich, und der Dumme auch. Nur zu atmen, zu wissen, dass man lebt, ist das nicht herrlich? … Ergib dich! flüstern die stillen, leisen Stimmen. Über Bord mit dem Gepäck!“ (Henry Miller, Schweb still wie der Kolibri)
Denkmodelle von:
Diogenes von Sinope, Epikur, Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Peter Singer, Michel de Montaigne
Die Genießer – Lust am Vergnügen
„Könnten wir nicht in frohem Genuss
Harmlos vergnügliche Tage spinnen,
Lustig das seichte Leben gewinnen?“
(Friedrich Schiller, Die Braut von Messina)
Denkmodelle von:
Leszek Kolakowski, Aristipp, Montaigne, Julien Offray de La Mettrie, Michel Onfray, Sören Kierkegaard, Marquis de Sade, Nietzsche, Thomas Nagel, Robert Nozick, Wilhelm Schmid
Die Pflichtbewussten – Praktizierte Moral
„Man sieht es, dieser gute Mann ist zu ehrlich, um klug zu sein, er kennt seine Pflicht besser als seine Zeit.“ (Ludwig Börne, Aphorismen und Miszellen)
Denkmodelle von:
Marcus Tullius Cicero, Lucius Annaeus Seneca, Marc Aurel, Immanuel Kant, David Ross, Sören Kierkegaard, Carol Gilligan
Die Quergeister – Eigensinn als eigener Sinn
„Wähle dir nach deiner Einsicht deinen Glauben, deine Verpflichtungen, deine Neigung; wir ehren deine Freiheit; ist deine Wahl unwürdig, trage die Folgen; bleibst du ein sittliches Wesen, so werden wir dich lieben trotz der Verschiedenheit unserer Ansichten.“ (Malwida von Meysenburg, Memoiren einer Idealistin)
Denkmodelle von:
Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard, John Stuart Mill, Harriet Taylor, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Hannah Arendt
Die Gemeinschaftsfreunde – Wille zur Bindung
„Wir sind geboren zur Geselligkeit und zur Geminschaft und Verbundenheit mit der Menschheit.“ (Cicero, Über das höchste Gut …)
„Unsere Gemeinschaft gleicht einem Gewölbe aus Stein, das einstürzen würde, wenn die einzelnen Steine sich nicht gegenseitig stützten und so das Gewölbe hielten.“ (Seneca, Briefe an Lucillus)
Denkmodelle von:
Aristoteles, Platon, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx, Friedrich Engels, Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, Marilyn Friedman, Jacques Derrida
Ludger Pfeils Buch ist kein historischer Abriss der Philosophiegeschichte oder der Teildisziplinen der Philosophie. Es geht ihm nicht um das Diskutieren detaillierter Inhalte und die Frage nach der Wahrheit einzelner Positionen. Ebenso liefert er auch keine reine Typisierung psychologischer Art. Seine Modelle sollen „nicht dazu dienen, sich selbst und seine Mitmenschen in Schubladen zu stecken, in die reale Personen schon aufgrund ihrer Größe nur gewaltsam hineingequetscht werden können, sondern die Neugierde auf andere Schrankfächer zu wecken und dem Reiz der Unordnung sein recht zu belassen.“
Nur zu gern möchten wir uns selbst, die anderen oder gleich die Welt verbessern. Auf dem Weg zu wirksamer Veränderung liegen aber – noch weit vor fundierter Kritik – die wichtigen Etappenziele Selbsterkenntnis und Verstehen. Die Philosophen-Typen wollen Ihnen nicht sagen, wie man richtig denken muss; sie zeigen Ihnen, wie man die Welt betrachten kann.
Mein Urteil
Ich glaube, dies ist ein Sachbuch für philosophisch interessierte Leser, die Spaß an der Beschäftigung mit Denkmodellen haben. Es enthält keine bloße Küchenpsychologie, sondern stellt verschiedenste Arten vor, die Welt zu sehen – ob zweifelnd, bejahend, pessimistisch, hedonistisch oder idealistisch. Jeder wird sich und seine Freunde, Familie in dem einen oder anderen Denktyp wiedererkennen. Pfeil geht nicht in die Tiefe, schreibt keine philosophische Abhandlung, die enorme Vorbildung benötigt oder stellt die Denkmodelle in Frage. Daher werden philosophisch geschulte Leser ein wenig die kritischen Töne und das abstrakte Hinterfragen von Denkmodellen vermissen, vor allem den eigenen Denkansatz und die Auseinandersetzung. Er schreibt keinen trockenen Abriss der Philosophie-Geschichte. Allen anderen Lesern erleichert der Autor jedoch den Zugang zu den Themen, da er jedem Denkmodell eine fiktive Person beispielhaft voranstellt und ihr Denken und Handeln in zahlreichen Situationen beschreibt. So kann man sich und die anderen besser in diesen Personen wiedererkennen. Am Ende jeden einzelnen Abschnittes, nennt er dabei nicht nur die Chancen dieser Art zu denken, sondern zeigt auch auf, welchen Risiken solche Denktypen im Alltag und im Zusammenleben mit anderen Menschen ausgesetzt sein können.
Dieses Buch möchte auffordern, über diese verschiedenen Denkarten nicht nur nachzudenken, sondern sich in jene Positionen hineinzuversetzen und sie auszuprobieren. Vor allem aber seine Mitmenschen darin ein wenig wiederzuerkennen und zu verstehen, warum ihr Handeln so und so sein könnte. Allerdings glaube ich nicht, dass ein Leser, der sich gar nicht in der Philosophiegeschichte auskennt, sich in diesem Buch zurechtfindet. Denn die Denkmodelle der Philosophen können in diesem Rahmen nicht erschöpfend erläutert werden, sondern werden exemplarisch vorgestellt. Da Ludger Pfeil seine Ideen innerhalb von Philosophiewerkstätten diskutieren ließ, könnte ich mir auch sehr gut vorstellen, dass man dieses Buch innerhalb des Philosophie-Studiums besprechen könnte. Denn es enthält keine abschließenden Wahrheiten – es enthält die Aufforderungen, zu denken und zu erkennen, dass jeder Mensch nach einem eigenen Denkmodell handelt, aber damit nicht allein ist.
Ich selbst erkenne mich übrigens im Hinterfrager und Schwarzseher wieder. Durch das Buch habe ich nochmal erkannt, dass es gar nicht schlimm ist, so zu denken, sondern viele andere auch so denken. Und wenn die nächste Grundsatzdiskussion mit meinem Ehemann folgt, dann sage ich einfach: „Du verstehst mich nicht? Hey, ich denke wie David Hume.“ Nur lustigerweise denkt mein Mann auch wie David Hume. Was macht man nun, wenn sich zwei Hinterfrager gepaart haben? 😉
Spannend wäre jetzt für mich abschließend noch die Frage, welche Faktoren dazu beitragen, dass ich nach diesen Modellen denke – Bildung, die Sozialisation, genetische Vorprägung? Darüber würde ich jetzt gern diskutieren, denn diese Frage bleibt im Buch offen.
Ludger Pfeil: Du lebst, was du denkst, Rowohlt Verlag, 2015.

Dr. Ludger Pfeil, geb. 1960, machte nach Philosophiestudium und Promotion Karriere in der Wirtschaft als Projektleiter und Führungskraft und ist als Managementberater tätig. Er vermittelt philosophische Themen lebensnah in Workshops, philosophischen Cafés, Einzelberatungen und Vorträgen. Die Wirkung philosophischer Denkmuster auf unsere Lebensführung ist sein zentrales Thema.
…und wenn Glücksfinder und Schwarzseher aufeinandertreffen kracht es leider gewaltig 😉 Danke für diese Vorstellung, hat mir so schon vieles erhellt. Werde mal sehen, wann ich Zeit für mehr habe.
Liebe Grüße an Euch
Hallo! Vielen Dank, dass du unserem Blog folgst. Das freut uns.
Wenn du dich für Philosophie interessierst, dann ist das vielleicht ein Buch für dich. Es lädt auf jeden Fall ein, weiter zu diskutieren und sich mit den genannten Denkpositionen zu beschäftigen.
Vor allem wäre es interessant sich darüber mit seinen Lieblingsdisputpartnern auszutauschen und Positionen zu vergleichen.
Viele Grüße
Katja