3 in 1: Haruki Murakami, Ned Beauman, Nino Haratischwili

Ich habe länger hier keine gelesenen Bücher vorgestellt. Leider. Wie das manchmal so ist, gibt es Zeiten und Phasen, die das nicht erlauben. Es war ein wenig still. Es hat gedauert. Es wurde gelesen und es wurde als beeindruckend empfunden. Alle folgenden drei Bücher möchte ich als lesenswert empfehlen. Wer wissen möchte, warum, darf das hier lesen 😉
Da sie vielen hinreichend bekannt sein werden, möchte ich mich nicht mit dem Referieren des Inhalts aufhalten, sondern meinen Eindruck darlegen. Geschichten wollen gelesen und nicht totreferiert werden.

Haruki Murakami: „Kafka am Strand“ (2002)

„Das spezifische Gewicht der Zeit lastet auf dir wie ein alter, ambivalenter Traum. Unablässig bist du in Bewegung, um der Zeit zu entrinnen. Doch auch wenn du bis an den Rand der Welt läufst, wirst du ihr nicht entkommen. Und dennoch kannst du nicht anders, als bis an den Rand der Welt zu gehen.“

Nachdem ich vom vorletzten Buch Murakamis („Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“) sehr enttäuscht und gelangweilt war (alles sehr vorhersagbar und stereotyp), konnte mich „Kafka am Strand“ gänzlich in seinen Bann ziehen und überzeugen. Dieser Roman ist der vierte Murakami, den ich gelesen habe und es war wieder einmal sehr spannend, verwirrend und außergewöhnlich in einem. Ich habe von Lesern gehört, die diesen Roman lieben und manchen, die ihn überhaupt nicht mochten oder als den schwierigsten Murakami bezeichneten. Was meint ihr?Haruki Murakami Kafka am Strand

Es ist beim Lesen von Murakamis Büchern immer wieder so, dass sich die Geschichte erst Schritt für Schritt erschließt und entwickelt, einen dann völlig verwirrt und man am Ende mit vielen Fragen zurücklässt. Der Autor entführt mich in diesem Roman wieder in eine magische Welt hinter der Realität und ich merke, dass irgendwie alles zusammengehört und zueinander führt. Die Geschichte entzieht sich jedoch am Ende einer eindeutigen Erklärung. Darin liegt die Stärke Murakamis und mit Sicherheit ist dies genau der Punkt, den manche Leser nicht mögen. Im oben genannten vorletzten Roman ging diese erzählerische Stärke ein wenig verloren und die Figuren blieben insgesamt sehr blass und konnten mich nicht wirklich berühren. Bei „Kafka am Strand“ hingegen gibt es ein begrenztes Personal, das ich jedoch sehr genau kennenlernen darf. Als Leser werde ich hineingezogen in die eigenartige Reise des jungen Kafka Tamura, die sich zuerst als eine Flucht aus seinem alten Leben und dann als die Reise zu seinen Dämonen und zu sich selbst entpuppt. Weiterlesen

Jonathan Safran Foer: „Extrem laut und unglaublich nah“ (2005)

Extrem laut und unglaublich nahWow! Jonathan Safran Foer begeisterte mich mit seinem Debütroman „Alles ist erleuchtet“ (2002) bereits über die Maßen. Sein erzählerisches Können zeigt er auch in seinem zweiten Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ und ich kann mich wirklich nicht entscheiden, welches der beiden Bücher ich lieber mag. Ich möchte euch sagen: Lest dieses großartige Buch!

Jonathan Safran Foer erzählt in diesem Roman auf ganz einfühlsame, humorvolle und einzigartige Weise die Geschichte des neunjährigen New Yorker Jungen Oskar Schell, dessen Vater beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kam. Doch ist dieses Buch weder ein politisches Buch noch geht es um Hintergründe oder Details des furchtbaren Terroranschlag von 2001.

Safran Foer hält kein Plädoyer über politische Schuld und Verantwortung, sondern nimmt diejenigen auf sensible Weise in den Blick, die an diesem Tag alles verloren haben: Menschen, die sie liebten. Oskar ist kein gewöhnlicher Junge, er ist „Pazifist, Erfinder, Schmuckdesigner, Tamburinspieler“ (so lautet es auf seiner Visitenkarte) und vollkommen verstört und wütend über den Verlust seines Vaters Thomas. Der Autor bewegt sich weg von der politischen Dimension des Ereignisses und nimmt es als Anlass für eine der schlimmsten Erfahrungen, die einem Kind passieren können – ein Elternteil zu verlieren. Wir begleiten den kleinen, klugen, vorwitzigen und mutigen Oskar bei der skurrilen Reise auf den Spuren seines Vaters durch das New York von 2001. Dabei lernen wir in Briefen seiner Großmutter und seines Großvaters die Wurzeln und Verzweigungen von Oskars Familie kennen, die bis in das zerbombte Dresden des 2. Weltkriegs führen. Weiterlesen

David Wonschewski: „Geliebter Schmerz. Melancholien“, 2014

Der Prolog sagt eigentlich schon alles: „Schwarzgemalt glücklich“ sollten wir dem Leben begegnen, soll heißen: Die dunklen Momente mit Gefühlen wie Trauer, Depression, Wut, Angst, Schmerz, Sehnsucht einfach annehmen und als Teil von uns anerkennen. Sie nicht verdammen und verteufeln und sich dafür schämen oder sie gar wegtherapieren oder betäuben. Sondern sich ihrer und ihrer Verursacher wie Tod, Verlust, Trennung, Abschied, Krankheit etc. annehmen, sie durchleiden und sehen: Sie sind „das so wichtige Salz unserer Lebenssuppe“.

Ich war neugierig, nachdem ich ein sympatisches Interview mit dem Autor bei Sophie von literaturen entdeckt hatte und immer wieder las, David Wonschewski sei ein Autor, der sich des Düsteren und Melancholischen annehme und der mit David Foster Wallace oder Thomas Bernhard verglichen wird. Vielleicht waren meine Erwartungen zu hoch.

Jedenfalls denke ich jetzt nach 513 Seiten „Geliebter Schmerz“-Varianten, dass ich es beim Prolog und dem Interview hätte belassen können. Die teils kurzen, teils längeren Geschichten rund um Einsamkeit, menschliche Abgründe, Gedankenkreisel, Verlassenwerden und Gehenlassenmüssen reichen nicht in mich hinein, lassen mich unberührt zurück. Schade! Gerade diese Annäherungen an die dunklen Seiten in uns, so nahm ich an, könnten mich durch Intensität, Irritation, Intimität … erschüttern. Mitnichten. Sie bleiben allesamt an der Oberfläche und dringen nicht zu mir durch. Woran mag das liegen? Geliebter Schmerz Weiterlesen

„Aus der Zeit fallen“ von David Grossman am Deutschen Theater

Wie kann man Worte finden, für das Unbeschreibliche, für einen Schmerz, der unfassbar ist?

David Grossman, der seinen 20jährigen Sohn im Libanonkrieg verlor, hat in seinem Text „Aus der Zeit fallen“ versucht, diesem Schmerz Worte zu verleihen. Entstanden ist ein Sog aus Emotion: Trauer, Verlustgefühl, Orientierungslosigkeit, Schmerz, Wut, Unverständnis, Einsamkeit, Verlassenheit …
Ich näherte mich diesem Sog nicht wie gewohnt auf Papier, das ich in Händen halte und das mir durch gedruckte Worte diese Emotionen nahebringt, sondern ins Bild gesetzt durch den Regisseur Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater in Berlin.

Aus der Zeit fallen

Ohne den Text Grossmans vorher gekannt zu haben, ließ ich die gewaltigen intensiven Bilder des Theaterstücks auf mich wirken; beinahe dreieinhalb Stunden lang.
Zu Beginn: Das wunderschöne, zugleich melancholische und symbolische Bild von Lichtern, die eingehängt und auf der dunklen Bühne emporgezogen werden, wie Sterne oder Seelenlichter, wie Gedenkkerzen. Ein Ehepaar, dass an einem langen Tisch sitzt und zu sprechen beginnt. Die Hilflosigkeit, den Schmerz und die Trauer über den im Krieg gefallenen Sohn in Worte zu fassen sucht. Er will sich nach „dort“ begeben, „dort“ wo sein Sohn nun wohl ist, das „dort“, von dem er nicht weiß, was es genau ist, wo sich dieser Ort befindet, und ob es ihn überhaupt gibt? Jedenfalls hält er es nicht mehr aus, im „hier“. Er begibt sich auf den Weg nach „dort“, sie bleibt. Weiterlesen

Mira Magén: „Wodka und Brot“, Roman (2012)

Welche Entscheidung die richtige ist, weiß man in den seltensten Fällen im Leben. Manchmal erscheint eine Entscheidung richtig, doch die Sicht auf die Dinge ändert sich mit der Zeit…Wodka und Brot

Die Protagonistin Amia in Mira Magéns Roman „Wodka und Brot“ bereut ihre Entscheidung, den Erfolg versprechenden Job als Steuerberaterin zugunsten des familiär betriebenen Ladens für Brot und Milch an den Nagel zu hängen, nicht. Auch als ihr Mann Gideon, ein ebenfalls erfolgreicher Anwalt, sie und den Sohn temporär verlässt, um Fischer zu werden und sich selbst zu finden, hadert sie nicht mit ihrem Schicksal. Sie macht einfach weiter. Irgendwie wird es sich schon geben mit dem Laden, der Hypothek, der Erziehung von Nadav. Doch es kommt natürlich anders; da taucht auf einmal Madonna auf, ein Mädchen, das allem und jedem trotzt, extravagante Frisuren trägt und schwarzen Lippenstift, und das mit Vorliebe geklautes Geld mit Tieren vergütet, wie zum Beispiel dem kleinen Welpen Wodka. Dieses Mädchen wird vom Hausbesitzer, einem schrulligen alten Mann der eine Tragödie durchlebte, und mit Argusaugen nebenan wohnt und alles überwacht, gar nicht gern gesehen, doch er hat mit seinen Problemen zu tun, die auch bald zu Amias Sorgen werden… Weiterlesen

Riikka Pulkkinen: Wahr (2012)

Aber sie ist der Überzeugung, dass niemand es sich leisten kann, die Liebe vorbeiziehen zu lassen. So reich kann niemand sein. Und deshalb macht sie ihm die Tür auf.“

Ich mag es, ich mag es nicht. Ich mag es, ich mag es nicht. Ich mag es…

So richtig entscheiden kann ich mich bei diesem Buch nicht. Nachdem ich hier darauf aufmerksam wurde, las ich es, und bin nun hin und hergerissen. Ist es ein liebevolles Buch über das Sterben und die Liebe in einer poetischen Sprache oder handelt es sich doch eher um eine nahe am Kitsch entlangschlitternde Geschichte, die teilweise zu bemüht daherkommt, um zu überzeugen?

Inhaltlich …

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Thomas Lehr: „September. Fata Morgana“, 2010

„in der Vergangenheit
gibt es keine Luft für uns
ganz gleich wie verzweifelt die Zukunft dort atmen möchte“

Dieses Buch ist etwas Besonderes. Interessanterweise war es ein spontaner Zufallskauf – etwas, wozu ich mich nur sehr selten hinreißen lasse. Irgendwie sprach mich das Buch an, ich nahm es zur Hand und war erstaunt, statt den üblichen dichten Satzketten verseähnliche Wortgebilde vor mir zu sehen. Und: Es gibt keine Satzzeichen! Da wusste ich, dass in diesem Roman Poesie erklingt. Thomas Lehr_SeptemberAbout

Zwei Väter, Martin in den USA und Tarik im Irak, und ihre Töchter Sabrina und Muna erzählen jeweils aus ihren Perspektiven von den Ereignissen 2001 und 2004 in New York und Bagdad. Die Kapitel entstehen durch ihre Sichtweisen und sind jeweils abwechselnd mit einem der vier Namen überschrieben. Eine direkte Verbindung zwischen den beiden Vater-Tochter-Paaren besteht nicht – vorerst nicht. Man wird auch länger im Unklaren gelassen, ob nicht vielleicht das eine Mädchen nur in der Vorstellung der anderen existiert:

„da ist etwas dran erwiderte Tarik aber stell dir ein Mädchen vor (vor dem Hintergrund eines Bildschirms auf dem nun wider Knabenchöre das Lied Saddams Lebenspuls! zu Gehör bringen) ein Mädchen deines Alters im World Trade Center
es will studieren wie du oder es hat gerade mit dem Studium begonnen
ihr hättet euch in London begegnen können oder in Paris“

So wie Tarik seiner Tochter Muna in Bagdad rät, sich eine Gleichaltrige in New York vorzustellen, so hat Sabrina seit ihrer Kindheit eine imaginäre Freundin, eine arabische Prinzessin. Beide Mädchen könnten rein hypothetisch einfach in der Phantasie der anderen existieren.
Sabrina geht am Morgen des 11.September 2001 zufällig in das World Trade Center, um dort ihre Mutter Amanda (und Martins Exfrau) zu besuchen. Sie kehrt nie daraus zurück. Weiterlesen

@bout John Irving: „Witwe für ein Jahr“ (1998)

John Irving_Witwe für ein Jahr

„Witwe für ein Jahr“ von John Irving ist für uns dieses Mal der Roman, mit dem wir uns beschäftigt haben. Es geht um die Familie Cole, in die Edward O´Hare durch einen Ferienjob hineingerät. Er beginnt als Teenager ein Verhältnis mit Marion Cole, einer wesentlich älteren Frau, die mit Ted Cole verheiratet ist. Deren Ehe ist aber seit dem Tod ihrer zwei Söhne stark von der Trauer beeinträchtigt. Darüber hinaus ist der Autor Ted Cole hinter weiblichen Wesen her, wie ein Löwe hinter seiner Beute. Und dann gibt es noch seine Tochter Ruth Cole, die später Schriftstellerin wird. Um sie und ihr Leben bzw. ihre Wiederbegegnung mit Edward geht es im Hauptteil. Der Roman ist sehr vielfältig, es geht nicht nur um Familienverhältnisse und Liebe, sondern auch um Verlust, den Umgang mit dem Tod und das Schriftstellerdasein bzw. darum, wie ein Roman entsteht. 

Laura: Für mich war es mein „erster Irving“. Was ist dir an dem Roman besonders aufgefallen?

Katja: Ich habe 2006 schon „GARP und wie er die Welt sah“ gelesen und war davon beeindruckt, welch unterhaltsamer und origineller Erzähler John Irving ist. Er erschafft ganz eigene Figurenwelten, zieht einen beim Erzählen direkt hinein in die Figurenwelt und in die Geschichte. Auch in „Witwe …“ empfinde ich das ähnlich. Ich habe das Gefühl, manche Eigenschaften von Figuren kehren wieder. Man könnte es ein irvingssches Stereotyp nennen. Man erinnert sich an die Figuren gut. Mir persönlich ist beim Lesen von Irvings Romanen aufgefallen, dass ich mich nicht mit seinen Figuren identifizieren kann oder diese besonders mag. Sie erscheinen mir so fern, so konstruiert, so fantastisch… Ich kann mich mit ihren Verhaltensweisen nicht identifizieren, aber das muss ich auch nicht. Will heißen – Irving schafft es mich im Leben von völlig fremden Menschen befinden zu lassen und das Gefühl zu haben, mitten drin zu sein ohne direkt zu verstehen oder zu mögen, was da passiert …

Laura: Vielleicht liegt es daran, dass ich Irving zuvor noch nicht gelesen habe, aber mich hat „Witwe…“ stark fasziniert. Natürlich ist es kein Kriterium für ein „gutes Buch“ (was immer das auch sein mag), ob man sich mit einer Figur identifizieren kann. Ich finde das gar nicht schlimm. Mich hat die Geschichte selbst auch enorm in ihre eigene fiktive Welt hineingezogen, da gings mir wie dir. Dabei konnte ich mich aber schon ein wenig mit Ruth anfreunden, bzw. war sie mir als Figur sympathisch. Ich fand sie gar nicht sonderlich konstruiert sondern ziemlich authentisch (alle Figuren).

Was mir besonders auffiel, ist, wie vielschichtig die Geschichten im Roman sind. Irving spricht soviele Ebenen und Themen an und reflektiert währenddessen darüber, ohne dass die Figuren an Intensität verlieren. Wenn ich an das Buch zurückdenke, sind mir meine mentalen Bilder noch sehr präsent in Erinnerung. Ist dir die Reflektion über das Schreiben und Entstehen eines Romans auch so aufgefallen?

Katja: Ja natürlich, auf der Metaebene geht es auch viel um das Schriftstellerleben und was es bedeutet, einen Roman zu schreiben. Ruth Cole, die „Witwe für ein Jahr“ begleitet man auf Lesereisen, Lesungen, Verlagsveranstaltungen durch die Welt. Das fand ich spannend. Auch das Thema „Fiktion vs. Authentizität“, das du schon mal kurz angesprochen hattest, finde ich spannend. Ist ein Roman irgendwie immer autobiographisch? Diese Frage beschäft Irving ja stark, da viele Leser in seinen Romanen Autobiographisches vermutet und hineingelesen haben. Im Nachwort zu Garp zur dt. Auflage Nr. 44 (!!!) schreibt er 1998: „Ein Erwachsener, der einen Roman liest, sollte wissen, worum es in dem Buch geht; ein Erwachsener sollte auch wissen, daß es nicht darauf ankommt, ob ein Roman autobiographisch ist oder nicht – es sei denn, dieser vermeintliche Erwachsene ist hoffnungslos naiv oder sonstwie unbedarft in der Welt der Literatur.“ =)

Laura: Definitiv ganz spannender Gegensatz bei Irving; Fiktion vs. Authentizität! Das hat mich auch sehr beeindruckt, wie er damit umgeht. Zum einen gibt es Stellen, an denen seine Figuren über Fiktion nachdenken, z.B. hier: „Als Romanautorin widerstrebte es ihr, über lebende Personen zu schreiben; sie empfand es als mangelnde Phantasie, denn jeder Romanautor, der diese Bezeichnung verdient, muß imstande sein, Figuren zu erfinden, die interessanter sind als ihre lebenden Vorbilder.“ (S.322) Und dann sind da noch so eingeflochtene Parallelen zu seinem eigenen Leben, wie die Tatsache, dass das Kapitel seines Romans „Die blaurote Luftmatratze“ von Ruth Cole (also seiner Romanfigur) verfasst wurde und in der Süddeutschen Zeitung erscheint; gleichzeitig im Dankwort vor dem Roman darauf hingewiesen wird, dass eben dieses Kapitel in eben dieser Zeitung 1994 erschien. Kein Wunder, dass manche Leser seine Romane für autobiografisch halten. Diese Schnittstellen und Schwellenebenen haben ihn Ende der 90er offenbar stark beschäftigt.

Katja: Nochmal was Generelles, damit das deutlich wird: Unstrittig ist John Irivng für mich auch ein großartiger Erzähler und ich hatte wieder großes Vergnügen beim Lesen eines Irvings. Sicherlich werde ich auch noch mehr von ihm lesen. Mit „Konstruiertheit der Figuren, so dass ich mich nicht mit ihnen identifizieren kann“ meine ich, dass er eine gewisse Dramatik in den Handlungsbeschreibungen und Lebenswegen einschlägt, die einfach so überraschend und einschneidend sind wie sie sich nur die kühnste Autorphantasie ausmalen kann. Darin liegt seine Stärke. Irving ist ein Maler, er malt Szenen, in die man eintaucht, er entführt den Leser in eine skurrile Figurenwelt, die man intensiv miterlebt. Das meine ich mit „konstruiert“. Da sind wir wieder bei der Begrifflichkeit Authentizität. Was heißt denn das, wenn eine Figur authentisch ist? Das man sich vorstellen kann, dass es sie in der „Realität“ geben kann und sie sich genauso verhalten könnte? Authentizität hängt ja auch immer davon ab, was ich mir selbst alles vorstellen kann und was ich selbst schon erlebt habe. Nehmen wir einen Menschen, der nichts erlebt hat – weder Tod, noch Liebe noch Leid – welche Handlungen in einem Roman wären denn dann „authentisch“? Ich halte das für einen schwierigen Begriff, der auf fiktionale Handlungen nicht wirklich gewinnbringend angewendet werden kann. Will heißen – er führt zu nichts.

Ich halte den Gegensatz von Authentizität und Fiktion für ein Konstrukt.

Laura: Hmm, ist ja interessant, dass du selbst den Begriff dann verwendest im Gegensatzpaar. Ich finde das Thema total spannend, und hatte nach meiner Irving-Lektüre auch mal eingehender darüber nachgedacht. Gibt es überhaupt einen Menschen, der nichts erlebt hat und somit auf keine Erfahrungen zurückgreifen kann? Und: Für mich ist etwas (wie eine Figur) authentisch, wenn sie nachvollziehbar handelt und es sie so in der Realität auch geben könnte, genau. Das heißt aber nicht unbedingt, dass ich das wiederum selbst erfahren haben muss um es mir vorstellen zu können… dann könnte ja auch ein Autor nur über Mord schreiben, wenn er selbst einen erlebt hat. Aber gut, das führt jetzt zu weit weg…

Andere Frage noch zu etwas, das mir stark auffiel in „Witwe für ein Jahr“: Wie gings dir mit dieser krassen Konfrontation Ruth Coles mit dem Tod ihrer Brüder durch wändeweise Fotos und dem Fahrtraining durch ihren Vater? Ich fand das sehr einprägsam und heftig, so mit Trauer umzugehen über Jahre hinweg.

Katja: Mit dem Gegensatzpaar beziehe ich mich ja nur auf deinen damaligen Artikel … Aber zu deiner Frage – Da stimme ich dir zu. Diese Fotografien an den Wänden, mit denen die Trauer verarbeitet wird, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Ich erinnere mich jetzt noch gut an das Foto „mit den Füßen“, wo beide Söhne mit der Mutter auf einem Bett unter der Decke liegen und nur die Füße schauen raus. Irving beschreibt es so eindrücklich, dass ich das Gefühl habe, es gesehen zu haben. Das macht seine große Erzählkunst aus.

Wie emfandest du denn die Sexszenen? Ich habe den Eindruck Sex in all seinen Spielarten ist ein wichtiges Thema bei Irving.

Laura: Stimmt, dieses Foto mit den Füßen kam so eindrücklich und häufig vor im Buch, dass ich es auch meine, selbst gesehen zu haben. Das ist toll, wenn ein Autor sowas schafft! Wahre Erzählkunst. Und du hast Recht, Sex spielt auch eine große Rolle. Nicht nur deshalb, weil der Roman teils in Amsterdam im Rotlichtmilieu spielt. Obwohl ich es nicht zuuviel fand, was manche ja bei Irving kritisieren. Es ist natürlich ungewöhnlich, so ausführlich über Sex mit einer wesentlich älteren Frau zu lesen, aber ich fands (mit einem gewissen Befremden) auch spannend.

Katja: Genau das meine ich auch mit der Identifikation, Konstruiertheit und Sympathie. Ich tauche als Leser in Irvingsche Figurenwelten, die teilweise so eigen und absonderlich sind, so zutiefstmenschlich und fast schon überdramatisch menschlich, das heißt, sie erleben die Klaviatur der menschlichen Emotionen. Ein wahres emotionales Fest könnte man sagen. Man kommt nicht immer mit, man ist überrascht, man fremdelt, man ist fasziniert. Jeder Leser sicherlich mit seinem eigenen Erfahrungshorizont. Irving unterhält einen nicht nur, er inszeniert. Vielleicht beschreibt das am besten meinen Leseeindruck. Übrigens sind Irving-Verfilmungen auch sehr zu empfehlen. Von Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ gibt es tolle Verfilmungen.

Laura: Ich verstehe, was du meinst. Man taucht komplett in die Irvingssche Erzählwelt ein und muss sich erstmal schütteln, wenn man daraus hervor wieder in den eigenen Alltag auftaucht. Mich hat das stark beeindruckt und ich will unbedingt noch mehr von ihm lesen. Er hat auch schon seinen Platz im Regal meiner „Lieblingsautoren“. Liebe auf den ersten Roman, wenn man`s pathetisch mag 😉 Und ein guter Tipp mit den Verfilmungen, das werd ich mir mal merken!

John Irving: „Witwe für ein Jahr“, 1998 erschienen bei Diogenes.

>>> Interessantes Interview mit John Irving zu seinem letzten Roman „In einer Person“

Dialog @bout Elisabeth Rank: „Bist du noch wach?“ (2013)

Wir sind aneinandergewachsen, eigentlich ganz organisch damals. Vielleicht kennt es gar nicht anders, vielleicht weiß er nicht, wie es ist, nur mit sich selbst zu sein und dass Kälte nicht Kälte, sondern Abwesenheit von Wärme ist. Ich drücke die Zigarette aus und drehe mich auf die Seite, während es leise gegen meinen Bauch schnurrt. Man kann nicht mehr als sich selbst verlangen. Der Rest ist Bonus.

Elisabeth Rank ist Ende zwanzig, lebt und arbeitet in einer PR-Agentur in Berlin. Rea ist Ende zwanzig, lebt und arbeitet in Berlin in einer PR-Agentur.

Rea ist die Hauptfigur von Elisabeth Ranks zweitem Roman, die Parallelen sind unbestreitbar. In „Bist du noch wach?“ berichtet Rea in der Ich-Perspektive mitten aus ihrem Leben im bunten, wilden großstädtischen Berlin. Sie lebt in einer WG in Kreuzberg mit ihrem besten Freund Konrad, Pelle und der Katze. Während ihr Vater auf der Intensivstation liegt, bröckelt die Beziehung zu Konrad, die vielleicht mehr ist als nur Freundschaft. Reas Leben in Berlin besteht aus After-Work-Partys in Berliner Szene-Startups, flüchtigen Bekanntschaften und eher losen Männerbeziehungen. Freundschaft erscheint als einzige Konstante in ihrem eher dahin plätschernden Leben. Der Roman dreht sich um das Großstadtgefühl, die Erkenntnis, das alles irgendwann ein Ende hat und die Frage, ob Freundschaften vielleicht unsere modernen Ersatzfamilien sind… Weiterlesen

3 Bücher und der Tod

3 Bücher und der TodMatthias Politycki: Jenseitsnovelle, 2009
Ulla Lenze: Der kleine Rest des Todes, 2012
Michael Köhlmeier: Idylle mit ertrinkendem Hund, 2010

Vermutlich gibt es kaum eine einschneidendere Erfahrung im Leben, als einen geliebten Menschen zu verlieren. Daher ist der Umgang mit dem Tod nahestehender Menschen ein Thema, das in der Literatur und auch in der Kunst eine große Rolle spielt. Nicht selten finden Autoren und Künstler in ihren Werken eine Möglichkeit, den eigenen Schmerz über Verluste zu verarbeiten und anderen mitzuteilen. Da mir die offene und künstlerisch-poetische Annäherung an den Tod sehr wichtig ist und ich für einen enttabuisierten Umgang mit Sterblichkeit eintrete, möchte ich euch im Folgenden drei literarische Bücher vorstellen, die sich alle auf ihre Weise mit dem Tod und Verlust auseinandersetzen.

Im Laufe diesen ausklingenden Jahres las ich Michael Köhlmeiers „Idylle mit ertrinkendem Hund“, Ulla Lenzes „Der kleine Rest des Todes“ und Matthias Polityckis „Jenseitsnovelle“. Die drei deutschsprachigen Autoren finden in ihren keine 200 Seiten umfassenden Werken eine eindringliche, bildreiche Sprachkraft um das Unfassbare zu beschreiben. Weiterlesen