+++Aufruf: Demokratie im digitalen Zeitalter+++

Es gibt ihn doch noch, den Autor und die Autorin, die nicht nur schreibend Veränderung fordern, sondern auch etwas tun. Das ist mir sehr sympathisch. Wenn man es auch mit einem ziemlichen Mammutproblem zu tun hat, ist es doch ein Anfang. Denn leider scheinen sich wohl alle der Problematik bewusst, aber irgendwie reicht das Bewusstsein noch nicht, damit auch etwas passiert. Es geht um unsere digitale Freiheit und das Recht auf Privatheit auch im Digitalen, das in Zeiten von NSA und Datenspeicherung grundlegend angegriffen wird.a stand for democracy

560 Schriftsteller aus 83 Ländern forderten letzte Woche im Aufruf „Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter“ eine verbindliche Internationale Konvention der digitalen Rechte. In einem groß angelegten internationalen Aufruf, initiiert in einem freien nicht-institutionellen Zusammenschluss u.a. von der Autorin Juli Zeh und dem Autor Ilja Trojanow,  fordern Autoren das Recht auf digitale Freiheit und Demokratie:

„Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr. Deshalb müssen unsere demokratischen Grundrechte in der virtuellen Welt ebenso durchgesetzt werden wie in der realen.“ (…)

Wir fordern daher, dass jeder Bürger das Recht haben muss mitzuentscheiden, in welchem Ausmaß seine persönlichen Daten gesammelt, gespeichert und verarbeitet werden und von wem; dass er das Recht hat, zu erfahren, wo und zu welchem Zweck seine Daten gesammelt werden; und dass er sie löschen lassen kann, falls sie illegal gesammelt und gespeichert wurden.

Wir rufen alle Staaten und Konzerne auf, diese Rechte zu respektieren.

Wir rufen alle Bürger auf,  diese Rechte zu verteidigen.

Wir rufen die Vereinten Nationen auf, die zentrale Bedeutung der Bürgerechte im digitalen Zeitalter anzuerkennen und eine verbindliche Internationale Konvention der digitalen Rechte zu verabschieden.

Wir rufen alle Regierungen auf, diese Konvention anzuerkennen und einzuhalten.“ Weiterlesen

Fiktiv UND authentisch, bitte!

Warum lese ich Romane? Was zeichnet einen Roman aus?

Eine Geschichte, oder vielleicht auch mehrere in einer, sollte er erzählen; er sollte mich anhand der Figuren mitnehmen in eine andere Erfahrungswelt als die meine, in eine erdachte Welt, in der alles möglich ist, ohne dass sie unglaubwürdig scheint…
Fiktiv und authentisch gleichzeitig sollte ein Roman meiner Meinung nach sein!

Es ist absurd, aber man kann nichts dagegen tun, dass Literatur, dass Romane heute im Leben der meisten Menschen nicht mehr eine so große Rolle spielen wie vielleicht noch vor 20 Jahren. Dass die nicht fiktionale Welt, die der Nachrichten, in den meisten Fällen wichtiger ist. Dass die meisten Menschen heute nicht mehr so viel Verwendung für Fantasie haben wie früher. Aber das bedeutet nicht, dass die Menschen, die heute Romane lesen, diese nicht schätzten und nicht verstünden – allein die Prozentzahlen haben sich verändert: Deutlich weniger Menschen als noch vor 20 Jahren lesen heute Romane.

Für mich allerdings ist die Welt der sogenannten Realität nicht so schrecklich interessant. (…) Das wirkliche Leben ist aber nicht so gut konstruiert wie eine Geschichte. (…) Die Architektur des Lebens ist nicht halb so gut wie die einer guten Geschichte. Das Leben macht auch nicht immer Sinn …“

John Irving zufolge gibt es seit den 1990ern die Tendenz, dass Leser sich stark für das Autobiografische in Romanen interessieren. Er verarbeitet diese Thematik auch (wie sovieles andere) in seinem großartigen Roman „Witwe für ein Jahr“. Was von real Erlebtem verbaut ein Autor in seinem Roman? Was verändert er, sodass eine unterhaltsame Geschichte daraus wird? Kann man nur über etwas schreiben, was man selbst erlebt hat? Ist es immer wichtig zu wissen, was wirklich so passiert ist und was stattdessen der Phantasie entsprang?

Nein.  Weiterlesen

Juli Zeh: Nullzeit (2012) – Sommerthriller mit Anspruch

Juli Zeh_Nullzeit Die Nullzeit beschreibt jene vorgegebene Zeitspanne, die man bei einem Tauchgang mit einem Drucklufttauchgerät zurücklegen kann um ohne Dekompressionsstopp an die Wasseroberfläche zurückzukehren. Dieser gefährliche Zeitaspekt des Tauchens beschreibt sehr deutlich die Stimmung in Juli Zehs anspruchsvollem Thriller „Nullzeit“: kalt, beklemmend, gefährlich, risikoreich. In „Nullzeit“ geht es ums Tauchen in zweierlei Hinsicht: Tauchen als beliebte Sportart neureicher Touristen in der Südsee und das Hinab- oder Eintauchen in die Untiefen einer Figur, eines Charakters, dessen wahre Tiefe man nie ganz erreichen und verstehen kann.

Wir sprachen über Windrichtung und Wellengang und spekulierten, wie der November verlaufen würde. Auch auf der Insel gab es Jahreszeiten, man musste nur genauer hinschauen. Tagsüber sank die Temperatur selten unter zwanzig Grad. Danach kam die wirtschaftliche Situation an die Reihe. Bernie, der Schotte, plädierte für eine geregelte Insolvenz der Griechen. Laura kam aus der Schweiz und fand, dass man kleine Länder unterstützen sollte. Ich interessierte mich nicht für Politik. Um den ganzen Tag Nachrichten im Internet zu lesen, hätte ich nicht auswandern müssen. Laura und Bernie einigten sich darauf, dass Deutschland die neue Wirtschaftspolizei Europas sei – stark, aber unbeliebt.  Erwartungsvoll blickten sie mich an. Im Ausland ist jeder Deutsche Angela Merkels Pressesprecher. Weiterlesen

Juli Zeh: „Spieltrieb“, Roman (2004)

Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht – erst recht.

Nach dem Auslesen dieses Romans brauchte ich erstmal eine Weile, um ihn zu verarbeiten. Erschüttert halte ich dieses Werk der deutschen Autorin in Händen, weil es eine Sprache voller Zündstoff enthält, Charaktere, die einen in die Gedanken verfolgen und eine Geschichte, die ahnen lässt, zu was Menschen fähig sind, wenn sie keine moralischen Werte mehr für sich definieren und dazu noch überaus intelligent sind.

Da ist Ada, das trotzige 15-jährige Problemkind, dem alles gleich-gültig ist. Sie trifft auf dem Internat und der Privatschule „Ernst-Bloch“ bei Bonn ausgerechnet auf Alev, den attraktiven, charismatischen Halb-Ägypter, dem nach Minuten nicht nur die weibliche Schulbelegschaft zu Füßen liegt. Und dann ist da noch Smutek, der Sport – und Deutschlehrer aus Polen, der von den beiden in ihrem Spiel erpresst wird.
Ada und Alev negieren am Ende jegliche Moral und hebeln sogar gewissermaßen das Rechtssystem aus. Dies passiert jedoch nicht bombastisch und mit entsicherten Waffen im Anschlag – sondern heimlich, still und schleichend inmitten der alltäglichen Schulabläufe. Und man selbst sitzt als Leser letztlich da und überlegt, ob man das was man normalerweise als Pädophilie, Missbrauch Schutzbefohlener, Erpressung und Verführung ansehen würde, wirklich plötzlich nicht mehr so schlimm findet. Zumindest in diesem speziellen Fall. Auch ich bin ein Opfer des Spieltriebs von Juli Zehs Romanfiguren geworden. Genauso wie die Richterin, die „kalte Sophie“, die in der Rahmenhandlung über Ada, Smutek und Alev richten soll. Doch von Anfang an. Weiterlesen