Tomas Espedal: „Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“, 2011

Ein Ich-Erzähler, der Trinker war und anstatt weiter zu trinken, anfängt, zu gehen. In «Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen», das 2006 auf Norwegisch erschien, sinniert ein Mann über das, was das Leben lebenswert macht. Und er ist dabei – meistens – in Bewegung.Espedal_Gehen

Es ist ein Buch über das Gehen. Über das Leben im Augenblick, über Achtsamkeit, über Einsamkeit, Lebensgenuss und -überdruss. Espedal schreibt nicht in einem Fluss. Vielmehr ist das Buch eine Anreicherung von Szenen, Wanderungen, Zwischenmenschlichkeiten und vor allem vielen Zitaten über das Gehen (von de Beauvoir, über Rousseau, Montaigne, Rimbaud, bis hin zu Woolf und Whitman) … Der Leser begleitet den Erzähler und es ist ein assoziatives, beschreibendes Erleben des Gehens, mehr als eine in sich geschlossene Geschichte mit klaren Strukturen, Figuren und Ereignissen. Weiterlesen

Ein unvollendeter Roman: Herrndorfs: „BILDER deiner großen LIEBE“, posthum 2014

Als ich etwa vierzehn Jahre alt war, habe ich mir oft vorgestellt, zu leben wie Isa in Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“. Das unbestimmte, herumstromernde, unabhängige Leben als Kind des Draußen – das war für mich ein Inbegriff für Freiheit. Und Rebellion. Bei mir kam es dann anders, was auch gut so ist, aber ich lese sehr gern davon.Bilder deiner großen Liebe

Der Leser begleitet Isa, wie sie spontan ohne Schuhe aus einem Garten mit vier hohen Ziegelsteinmauern (der Klapse) entflieht und durch die Gegend stromert. Die Natur ist ihr sehr nah, ständig sie umgebend und da. Die Sterne und ihr Tagebuch als Kompass zieht sie durch die Welt und macht sich ihre ganz und gar nicht unreifen Gedanken. Isa beobachtet die Menschen um sich her und es geht mir wie masuko13, die schreibt: „Ich mag Isa, sie ist so herrlich verrückt. Aber auf diese Art verrückt, dass ich mehr und mehr das Gefühl bekomme, sie ist die Normale und bestaunt eine Welt von Verrückten.“

Isas Geschichte ist die des Mädchens, dem Tschick und Maik in Herrndorfs Jugendroman „Tschick“ auf der Müllhalde begegnen. Weiterlesen

Zwei Islandromane

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Copyright: Laura, analog, Nikon F75

Reisen und Lesen gehören zu meinen allerliebsten Freizeitbeschäftigungen. Optimal verbinden läßt sich beides in Island! Nach langen Wanderungen in beeindruckenden Landschaften ist man bei maximal 15° Celsius in der besten Stimmung, den Tag mit einem Buch ausklingen zu lassen – denn man ist nicht so überwältigt von Eindrücken und „erschlagen“, wie man es häufig nach Stadterkundungen in anderen Ländern ist. Zudem bietet Island genug Stille und Rückzugsorte, um in aller Ruhe einen Roman zu lesen. Und das Besondere im Sommer: Es wird nicht dunkel! Wer um Mittsommer das Land am Polarkreis besucht, findet das perfekte Lesewetter vor: Licht rund um die Uhr. So kann man selbst um Mitternacht noch draußen sitzen und lesen – selbst wenn man analog liest und keinen E-Reader mit integrierter Beleuchtung nutzt.
Da ich, um Land und Leuten meines Reiseziels noch „näher“ zu kommen, heimische Autoren und möglichst im Reiseland spielende Geschichten lese, fiel meine Wahl auf zwei Islandromane von Hallgrimur Helgason und Auđur Ava Olafsdottir, die ich euch kurz vorstellen möchte.

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Marlen Haushofer: „Die Wand“, Roman (1963)

Die WandEinmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in sie einwachsen, und später wird der Wald bis zur Wand vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat. Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken. Und der Wald will nicht, daß die Menschen zurückkommen.

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Jonathan Franzen: „Farther Away / Weiter weg“, Essays (2012)

Jonathan Franzen: Farther AwayVor wenigen Tagen erschienen Jonathan Franzens Essays „Farther Away“ in der deutschen Übersetzung („Weiter weg“). Da ich seine Essays bereits im Juni letzten Jahres in der englischen Ausgabe las, damals jedoch noch nicht bloggte, nehme ich die Veröffentlichung der Übersetzung nun zum Anlass, um meine Eindrücke mit euch zu teilen.

Letzten Sommer hatte ich, nachdem ich den Roman „Freiheit“ gelesen hatte, das große Verlangen danach, mehr von Franzen zu lesen. Weiterlesen

Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“, Roman (2010)

Der französische Provokateur Houellebecq nutzt in seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman mehrere Kunstgriffe. Vor allem handelt es sich um einen klassischen Künstlerroman, der das Bild des mittellosen, in einer kalten Dachgeschosswohnung in Paris lebenden Künstlers aufgreift. Typisch für den Autor von „Elementarteilchen“ ist auch die Gesellschaftskritik, die einem entgegenschlägt und das Analysieren von zwischenmenschlichen Beziehungen. Was neu ist bzw. unerwartet kommt: Der Autor lässt sich in seinem Roman umbringen.  Weiterlesen

Es ist Herbst und ich empfehle … Rainer Maria Rilke

Blätterfall, rauer Wind, grauer Himmel oder Sonnenschein durch buntes Laubwerk, kühle Abende und laue Nachmittage, Wolkenbruch und nieselnder Regen – in Berlin wird Herbst und das finde ich wunderschön. Der Herbst ist die Jahreszeit, in der ich geboren wurde und seltsamer Weise fühle ich mich diesem sehr verbunden. Meine Blicke baden im Farbenmeer des sich rot-orange-gelb-purpur einfärbenden Laubes und die kräftigen Windböen wirbeln neue Gedanken durch meinen Kopf und vertreiben die alten.

Der Herbst ist Melancholie und Einkehr aber auch Erneuerung für mich und er zeigt mir, dass alles, was im Sommer in voller Blüte stand, einmal vergeht und sich wandelt. Er ist für mich auch irgendwie der poetischste Monat, weil seine kräftigen Farben und seine ganz eigene dunkle Energie viel Kreativität und Schöpferisches hervorbringen kann. Daher lese ich im Herbst auch besonders gern Lyrik. Die emotionale Vielfalt und verzweifelte Stärke des Herbstes haben schon viele Autoren inspiriert diese in lyrischen Bildern einzufangen. Diese Jahreszeit animiert ungemein, die eigenen Empfindungen in Worte zu kleiden und das Innere nach außen zu kehren … Weiterlesen