Wolfgang Herrndorf: „Arbeit und Struktur“

roBerlin_SU_Herrndorf_HK_f_Mattfolie.inddVor 1,5 Jahren hat Laura bereits hier über Wolfgang Herrndorfs Blogbuch „Arbeit und Struktur“ geschrieben. Nun habe ich dieses Buch zuende gelesen und bin sehr berührt. Laura hat eigentlich schon alles gesagt, dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Es ist einfach nur verdammt traurig, dass er von dieser beschissenen Krankheit dahingerafft wurde und so beeindruckend, welchen Mut er besaß, selbst zu bestimmen, wann Schluss ist. Daher möchte ich Herrndorf selbst sprechen lassen und einige Stellen aus seinem Blog nennen, die mich besonders nachdenklich gemacht haben.

Ich lese den Wikipedia-Artikel zum Thema Narzissmus und komme zu dem Ergebnis., dass es sich in Wahrheit nicht um unterschiedliche Ängste handelt, sondern um eine einzige: Der Tod ist schließlich nichts anderes als die Mitteilung des Universums an das Individuum, nicht geliebt zu werden, die Mitteilung, nicht gebraucht zu werden, dieser Welt egal zu sein. (…)

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3 in 1: Haruki Murakami, Ned Beauman, Nino Haratischwili

Ich habe länger hier keine gelesenen Bücher vorgestellt. Leider. Wie das manchmal so ist, gibt es Zeiten und Phasen, die das nicht erlauben. Es war ein wenig still. Es hat gedauert. Es wurde gelesen und es wurde als beeindruckend empfunden. Alle folgenden drei Bücher möchte ich als lesenswert empfehlen. Wer wissen möchte, warum, darf das hier lesen 😉
Da sie vielen hinreichend bekannt sein werden, möchte ich mich nicht mit dem Referieren des Inhalts aufhalten, sondern meinen Eindruck darlegen. Geschichten wollen gelesen und nicht totreferiert werden.

Haruki Murakami: „Kafka am Strand“ (2002)

„Das spezifische Gewicht der Zeit lastet auf dir wie ein alter, ambivalenter Traum. Unablässig bist du in Bewegung, um der Zeit zu entrinnen. Doch auch wenn du bis an den Rand der Welt läufst, wirst du ihr nicht entkommen. Und dennoch kannst du nicht anders, als bis an den Rand der Welt zu gehen.“

Nachdem ich vom vorletzten Buch Murakamis („Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“) sehr enttäuscht und gelangweilt war (alles sehr vorhersagbar und stereotyp), konnte mich „Kafka am Strand“ gänzlich in seinen Bann ziehen und überzeugen. Dieser Roman ist der vierte Murakami, den ich gelesen habe und es war wieder einmal sehr spannend, verwirrend und außergewöhnlich in einem. Ich habe von Lesern gehört, die diesen Roman lieben und manchen, die ihn überhaupt nicht mochten oder als den schwierigsten Murakami bezeichneten. Was meint ihr?Haruki Murakami Kafka am Strand

Es ist beim Lesen von Murakamis Büchern immer wieder so, dass sich die Geschichte erst Schritt für Schritt erschließt und entwickelt, einen dann völlig verwirrt und man am Ende mit vielen Fragen zurücklässt. Der Autor entführt mich in diesem Roman wieder in eine magische Welt hinter der Realität und ich merke, dass irgendwie alles zusammengehört und zueinander führt. Die Geschichte entzieht sich jedoch am Ende einer eindeutigen Erklärung. Darin liegt die Stärke Murakamis und mit Sicherheit ist dies genau der Punkt, den manche Leser nicht mögen. Im oben genannten vorletzten Roman ging diese erzählerische Stärke ein wenig verloren und die Figuren blieben insgesamt sehr blass und konnten mich nicht wirklich berühren. Bei „Kafka am Strand“ hingegen gibt es ein begrenztes Personal, das ich jedoch sehr genau kennenlernen darf. Als Leser werde ich hineingezogen in die eigenartige Reise des jungen Kafka Tamura, die sich zuerst als eine Flucht aus seinem alten Leben und dann als die Reise zu seinen Dämonen und zu sich selbst entpuppt. Weiterlesen

Ein unvollendeter Roman: Herrndorfs: „BILDER deiner großen LIEBE“, posthum 2014

Als ich etwa vierzehn Jahre alt war, habe ich mir oft vorgestellt, zu leben wie Isa in Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“. Das unbestimmte, herumstromernde, unabhängige Leben als Kind des Draußen – das war für mich ein Inbegriff für Freiheit. Und Rebellion. Bei mir kam es dann anders, was auch gut so ist, aber ich lese sehr gern davon.Bilder deiner großen Liebe

Der Leser begleitet Isa, wie sie spontan ohne Schuhe aus einem Garten mit vier hohen Ziegelsteinmauern (der Klapse) entflieht und durch die Gegend stromert. Die Natur ist ihr sehr nah, ständig sie umgebend und da. Die Sterne und ihr Tagebuch als Kompass zieht sie durch die Welt und macht sich ihre ganz und gar nicht unreifen Gedanken. Isa beobachtet die Menschen um sich her und es geht mir wie masuko13, die schreibt: „Ich mag Isa, sie ist so herrlich verrückt. Aber auf diese Art verrückt, dass ich mehr und mehr das Gefühl bekomme, sie ist die Normale und bestaunt eine Welt von Verrückten.“

Isas Geschichte ist die des Mädchens, dem Tschick und Maik in Herrndorfs Jugendroman „Tschick“ auf der Müllhalde begegnen. Weiterlesen

XLVIII. Sonntag mit Proust: Wiederauftauchende Erinnerung an die verstorbene Großmutter

„Und so, in einem wahnsinnigen Verlangen, mich in ihre Arme zu stürzen, erfuhr ich erst jetzt, in diesem Augenblick, mehr als ein Jahr nach ihrer Beerdigung – auf Grund jenes Anachronismus, durch den so oft der Kalender der Tatsachen mit dem Kalender der Gefühle nicht zusammenfällt -, daß sie gestorben war. Ich hatte seit jenem Augenblick oft von ihr gesprochen und auch an sie gedacht, aber hinter meinen Worten und Gedanken eines undankbaren, egoistischen, grausamen jungen Menschen hatte niemals etwas gestanden, was meiner Großmutter ähnlich sah, weil ich in meinem Leichtsinn, meiner Vergnügungssucht, meiner Gewöhnung an den Anblick ihrer Krankheit die Erinnerung an das, was sie gewesen war, nur in virtuellem Zustand noch weiterhin in mir trug. In welchem Augenblick wir sie auch betrachten, immer hat unsere seelische Ganzheit nur einen beinahe fiktiven Wert trotz der umfangreichen Bilanz ihrer Reichtümer, denn bald stehen die einen, bald die anderen nicht zu unserer Verfügung, und zwar die effektiven Schätze ebensowenig wie diejenigen der Einbildungskraft, und für mich zum Beispiel, ganz wie die des einstigen Namens Guermantes, die noch so viel schwerwiegenderen der wahren Erinnerung an meine Großmutter.“

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Teil 4.1: Sodom und Gomorra. Dtsch. von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt: Suhrkamp, 1982, S. 218 f.

Jonathan Safran Foer: „Extrem laut und unglaublich nah“ (2005)

Extrem laut und unglaublich nahWow! Jonathan Safran Foer begeisterte mich mit seinem Debütroman „Alles ist erleuchtet“ (2002) bereits über die Maßen. Sein erzählerisches Können zeigt er auch in seinem zweiten Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ und ich kann mich wirklich nicht entscheiden, welches der beiden Bücher ich lieber mag. Ich möchte euch sagen: Lest dieses großartige Buch!

Jonathan Safran Foer erzählt in diesem Roman auf ganz einfühlsame, humorvolle und einzigartige Weise die Geschichte des neunjährigen New Yorker Jungen Oskar Schell, dessen Vater beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kam. Doch ist dieses Buch weder ein politisches Buch noch geht es um Hintergründe oder Details des furchtbaren Terroranschlag von 2001.

Safran Foer hält kein Plädoyer über politische Schuld und Verantwortung, sondern nimmt diejenigen auf sensible Weise in den Blick, die an diesem Tag alles verloren haben: Menschen, die sie liebten. Oskar ist kein gewöhnlicher Junge, er ist „Pazifist, Erfinder, Schmuckdesigner, Tamburinspieler“ (so lautet es auf seiner Visitenkarte) und vollkommen verstört und wütend über den Verlust seines Vaters Thomas. Der Autor bewegt sich weg von der politischen Dimension des Ereignisses und nimmt es als Anlass für eine der schlimmsten Erfahrungen, die einem Kind passieren können – ein Elternteil zu verlieren. Wir begleiten den kleinen, klugen, vorwitzigen und mutigen Oskar bei der skurrilen Reise auf den Spuren seines Vaters durch das New York von 2001. Dabei lernen wir in Briefen seiner Großmutter und seines Großvaters die Wurzeln und Verzweigungen von Oskars Familie kennen, die bis in das zerbombte Dresden des 2. Weltkriegs führen. Weiterlesen

XLIV. Sonntag mit Proust: Der Tod in der Frau

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Félicién Rops: The Dance of Death, o.J.

„»Adieu, ich habe kaum mit Ihnen gesprochen, aber so ist es nun einmal in der Welt, man sieht sich nicht, man sagt sich nicht, was man sagen möchte; im übrigen ist es überall im Leben das gleiche. Wir wollen nur hoffen, daß es nach dem Tode besser eingerichtet ist. Auf alle Fälle hat man dann nicht mehr nötig, eine dekolletierte Robe anzuziehen. Aber wer weiß? Vielleicht wird man bei großen Festen seine Gebeine und seine Würmer zur Schau stellen. Warum auch nicht? Da, sehen Sie nur die alte Rampillon an, finden Sie, daß ein großer Unterschied zwischen ihr und einem Skelett in ausgeschnittenem Totenhemd besteht? Allerdings hat sie ja auch ein Recht darauf, denn sie muß allermindestens hundert Jahre alt sein. Sie war schon eines jener geheiligten Ungeheuer, vor denen ich mich zu verneigen weigerte, als ich noch Debütantin war. Ich hielt sie bereits seit langem für tot, das übrigens wäre die beste Erklärung für das Schauspiel, das sie uns hier bietet. Es hat etwas Eindrucksvolles an sich, etwas Liturgisches, Campo-Santohaftes!«“

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Teil 4.1: Sodom und Gomorra. Dtsch. von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt: Suhrkamp, 1982, S. 122.

Notizen zur Lektüre: Thomas Bernhard „Der Atem“ – letzter Teil

Wir lesen Thomas Bernhards autobiographische Rückschau “Der Atem” und notier(t)en wöchentlich unsere Eindrücke vom Text. Heute kommen wir damit zum Schluss und zeigen euch unsere Notizen zum letzten Teil (S. 91 – 124) und fassen unsere Leseeindrücke zusammen.

„Diese Entdeckung, daß die Literatur die mathematische Lösung des Lebens und in jedem Augenblick auch der eigenen Existenz bewirken kann, wenn sie als Mathematik in Gang gesetzt und betrieben wird, also mit der Zeit als eine höhere, schließlich die höchste mathematische Kunst, die wir erst dann, wenn wir sie ganz beherrschen, als Lesen bezeichnen können, hatte ich erst nach dem Tod des Großvaters machen können, diesen Gedanken und diese Erkenntnis verdankte ich seinem Tod.“ (S. 119)

Inhalt:

Abschluss der „ersten Existenz“ d. Sterbezimmers im Krankenhaus – Gesundungsweg schreitet voran – Übersiedelung des Erzählers in das Erholungsheim „Hotel Vötterl“ in Großgmain am Rande eines bayerischen Bergdorfes – Beziehung zur Mutter wird rekapituliert und als enger beschrieben – Beziehung zw. Großvater und Mutter wird als schwierig thematisiert – Ansätze psychologischer Ausdeutungen – Im Erholungsheim erwacht neuer Lebenswille, obwohl auch dies ein Sterbeheim ist – Aufarbeitung des Krankenhausaufenthaltes – Misstrauen gegenüber Ärzten bis zum Schluss – Lust auf Spaziergänge und Naturerlebnis kommt zurück – Interesse für die Literatur und große Liebe zur Musik verstärkt sich – Besuch von Kurkonzert – Auseinandersetzung mit Mitpatient, der ganz andere Interessen hat – nächster Schicksalsschlag am Ende des Berichts: Krebserkrankung der Mutter + Tuberkuloseerkrankung durch Aufenthalt im „Hotel Vötterl“ – Entlassung aus Großgmain – Erhalt v. Einweisungsschein in Lungenheilstätte Grafenhof

Sprache u. Stimmung: Weiterlesen

Notizen zur Lektüre: Bernhards „Der Atem“ V

Wir lesen Thomas Bernhards autobiographische Rückschau “Der Atem” und notieren wöchentlich unsere Eindrücke vom Text.

Teil V (S. 69-90)

„Ich bin sicher, ein Besuch im Sterbezimmer hatte auf den Besucher eine lebenslängliche Wirkung.“

Inhalt:

Großvater ist Mutmacher und Hoffnungsbringer – Beschreibung der Besucher im Sterbezimmer – Geburtstag ohne den Großvater feiern – Tod des Großvaters – durch Familie verschwiegen – der Erzähler (Bernhard) erinnert sich wie er nur aus der Zeitung vom Tod des geliebten und verehrten Großvaters erfuhr – Beschreibung des eigenen körperlichen Verfalls: Angst davor, nicht mehr Sänger sein zu können- Verschlechterung des körperlichen Zustands gleichzeitig mit Tod des Großvaters – Erinnerung an Alltag vor der Zeit im Sterbezimmer mit Großvater, Schule und Musik – Erbe des Großvaters für Enkel: Schreibmaschine – Angebot eines „anderen, freundlicheren Zimmers“ wird abgelehnt

Sprache und Stimmung:

Ich-zentrierte Reflektionen – bei Schilderung von der Konfrontation mit Tod des Großvaters durch die Zeitung hat die Erzählung etwas stark Narratives, Spannungsgeladenes, nicht so nüchtern wie sonst – Ton wird bei Erinnerung an Großvater sentimental und emotional – detaillierte und gefühlvolle Wiedergabe der letzten Momente mit dem Großvater – weiterhin sachliche Betrachtung der eigenen Krankheit – sehr radikal nichts beschönigend – nüchterne Beschreibung wie er vom Tod des Großvaters erfahren hat – Schockzustand? – Betonung der Distanz zu restlicher Familie durch Hervorhebung des Alleinseins und der Verschwiegenheit der anderen, den Großvatertod betreffend

Bedeutung und Wirkung:

Armseligkeit des Patienten und Hoffnungslosigkeit gegenüber eigener Lage – Junger Mensch erlebt eigenen körperlichen Verfall – Schock über Reaktion der Familie und Verschweigen des Todes des Großvaters – Erkenntnis über starke Bedeutung des Großvaters für eigene Genesung und Schock über Verlust – Tod des Großvaters bedeutet plötzliche Unabhängigkeit + Freiheit: neue Erfahrung für Erzähler – Leben ohne Großvater vorstellbar? – Schreibmaschine des Großvaters als Symbol der Bedeutung des Großvaters für Bernhard – schriftstellerischer Nachlass geht in Form der Schreibmaschine symbolisch an den Enkel – Erzähler erkennt Tod des Großvaters als Chance an und schöpft neuen Lebens- und Gesundungswillen

Nächste Woche geht es weiter mit S. 90 – 105!

Link zu Teil IV

„Aus der Zeit fallen“ von David Grossman am Deutschen Theater

Wie kann man Worte finden, für das Unbeschreibliche, für einen Schmerz, der unfassbar ist?

David Grossman, der seinen 20jährigen Sohn im Libanonkrieg verlor, hat in seinem Text „Aus der Zeit fallen“ versucht, diesem Schmerz Worte zu verleihen. Entstanden ist ein Sog aus Emotion: Trauer, Verlustgefühl, Orientierungslosigkeit, Schmerz, Wut, Unverständnis, Einsamkeit, Verlassenheit …
Ich näherte mich diesem Sog nicht wie gewohnt auf Papier, das ich in Händen halte und das mir durch gedruckte Worte diese Emotionen nahebringt, sondern ins Bild gesetzt durch den Regisseur Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater in Berlin.

Aus der Zeit fallen

Ohne den Text Grossmans vorher gekannt zu haben, ließ ich die gewaltigen intensiven Bilder des Theaterstücks auf mich wirken; beinahe dreieinhalb Stunden lang.
Zu Beginn: Das wunderschöne, zugleich melancholische und symbolische Bild von Lichtern, die eingehängt und auf der dunklen Bühne emporgezogen werden, wie Sterne oder Seelenlichter, wie Gedenkkerzen. Ein Ehepaar, dass an einem langen Tisch sitzt und zu sprechen beginnt. Die Hilflosigkeit, den Schmerz und die Trauer über den im Krieg gefallenen Sohn in Worte zu fassen sucht. Er will sich nach „dort“ begeben, „dort“ wo sein Sohn nun wohl ist, das „dort“, von dem er nicht weiß, was es genau ist, wo sich dieser Ort befindet, und ob es ihn überhaupt gibt? Jedenfalls hält er es nicht mehr aus, im „hier“. Er begibt sich auf den Weg nach „dort“, sie bleibt. Weiterlesen

Notizen zur Lektüre: Bernhards „Der Atem“ IV

Wir lesen Thomas Bernhards autobiographische Rückschau “Der Atem” und notieren wöchentlich unsere Eindrücke vom Text.

Teil IV (S. 49-69)

Inhalt:

Aus der Sicht des Großvaters: Unterschied zwischen tatsächlichen und erfundenen Krankheiten – jede Krankheit womöglich eine Erfundene – Notwendigkeit der erfundenen Krankheit – Beschreibung der Arztvisite – Ausweglosigkeit der Kranken = zum Tode verurteilten Menschen – Medikamente als Todesbeschleuniger – Beziehung zwischen Arzt und Patient beleuchtet –Sicht des Erzählers: Wunsch nach Aufklärung und Erklärung durch Ärzte wird verweigert – Beschreibung des Auftauchens (und Sterbens) einzelner Menschen im Sterbezimmer: der Gastwirt, der General, der Marktfahrer und ihrer Geschichten

Sprache und Stimmung:

Durchlaufender Bewusstseinsstrom ohne Brüche und ohne Pausen – negative Wortwahl betont Gefühlskälte,  Distanz und Unbeteiligtheit der Ärzte – Erzähler schwenkt in 3. Person um, wiedergegebene sehr sachliche Reflektionen des Großvaters gehen über in Reflektionen des Enkels und verschwimmen mit diesen – mehrfach wiederholtes Bild der Mauer verdeutlicht Rücksichtlosigkeit der Ärzte und als unüberwindbare Distanz wahrgenommene Arzt-Patienten-Beziehung –

Änderung der Erzählperspektive zwischendrin = Distanz zu Berichtetem – Hervorhebung der eigenen Ausnahmesituation (nur der Erzähler verlässt das Sterbezimmer lebend?) – Beschreibung der anderen Kranken / Sterbenden aus Perspektive eines beteiligten aber nicht unmittelbar betroffenen Beobachters – Beschreibungen verschiedener Arten zu Sterben anhand einzelner fremder Personen löst Frage nach dem „richtigen Tod“ aus und geht über in Reflektion über Rolle des Schreibenden – sehr passendes Sprachbild: das Leben als „schäbiger, vollkommen abgerissener Veranstaltungskalender“ ( S. 64)

„Schließlich wird den wenigsten ein Tod ohne Sterben zuteil. Wir sterben von dem Augenblick an, in welchem wir geboren werden, aber wir sagen erst, wir sterben, wenn wir am Ende dieses Prozesses angekommen sind, und manchmal zieht sich dieses Ende noch eine fürchterlich lange Zeit hinaus. Wir bezeichnen als Sterben die Endphase unseres lebenslänglichen Sterbeprozesses.“ (S. 64)

Bedeutung und Wirkung:

Ärzte werden wie gefühlslose Unwesen beschrieben, die nur ihre Arbeit verrichten – Heilen als Geschäft – Kritik an Ärzteberuf – empfundene Unmenschlichkeit der Ärzte, denen Patient hilflos ausgeliefert ist – Schwestern als abgestumpfte ausführende Menschen ohne Anteilname – der Tod wird nur als Endpunkt wahrgenommen – Starke Wertungen und moralische Fragen, gesellschaftliche Dimensionen:  relevanter ist das Sterben, dass allen Lebenden seit ihrer Geburt widerfährt = Leben heißt zu sterben – im Tod sind wir alle gleich, egal welchen gesellschaftlichen Standes oder Berufen wir im Leben nachgehen – Frage: „Wie wollen wir Sterben?“ ist verbunden mit der Frage nach dem Glück – menschenwürdiges Leben und Sterben – Jeder verdient einen „guten und sanften“ Tod, nicht jeder erhält einen – moralische Wertung – indem der Erzähler über den „Schreibenden“ nachdenkt, macht er sich indirekt über den Beobachterstandpunkt eines Autoren Gedanken

Nächste Woche geht es weiter mit S. 69 – 90!

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